Wenn "smart" nicht immer so smart ist 15.01.201821.02.2022 Es ziehen mehr Menschen in Ballungsgebiete als aus ihnen heraus. Das ist ein Trend, von dem Mobilitätsforscher annehmen, das er nicht nur eine kurzfristige Modeerscheinung ist, sondern allen damit zusammenhängenden Problemen zum Trotz noch viele Jahrzehnte andauern und sich sogar noch beschleunigen wird. Das Land wird abgehängt. Und zwar dauerhaft. Aber das ist nicht neu. Hintergrund Geschichtlich betrachtet, ist dies sogar ein normaler Prozess, der im letzten Jahrhundert durch den technischen Fortschritt (in Form des Personennahverkehrs) nur kurzfristig aufgehalten wurde. Eigentlich gehört Mobilität oder Migration zur Menschheit wie der Wabenbau zu den Bienen. So wie Insekten Kolonien bilden, haben schon Griechen Kolonien gebildet, die sich – nächste Analogie – teilweise erbittert bekämpft und gehasst haben. Obwohl beide nach unserem heutigen Nationalstaatsverständnis eigentlich Griechen waren, dieselbe Sprache sprachen und dieselben Götter anbeteten. Für die damaligen Menschen bedeutete dies, dass man auszog, weil die Mühen und Gefahren des Umzugs in eine neue Kolonie (z.B. Auseinandersetzungen mit den oft schon vorhandenen Einheimischen) immer noch mehr Perspektive boten als das armselige Sterben daheim.1 Trotz der erheblichen Migrationsbewegungen im auch im Mittelalter (beschönigend „Völkerwanderung“ genannt), waren es doch Flüchtlingsströme, die aufgrund von Kriegen und schlechten wirtschaftlichen Bedingungen in ihrer Heimat aufbrachen, um friedlichere und fruchtbarere Gegenden zu besiedeln. Dass auch dies nicht friedlich ablief, sondern im Gegenteil sogar zum Zerfall eines großen europäischen Reiches (wie beispielsweise des römischen Imperiums) beitrug, war eine Begleiterscheinung, die vermutlich nicht beabsichtigt war, sondern am fehlenden Anpassungsvermögen der römischen Sklavenhaltergesellschaft lag. Denn eigentlich wollten die Migranten nur eine Zukunft für sich und ihre Familie, ob sie nun Langobarden waren oder Kelten, Germanen oder Mauren. Im Europa kam der Migrationsprozess im Mittelalter nur zum Stocken, weil durch unscheinbare Pestbazillen, die auf eine unwissende Bevölkerung stießen, die Bevölkerung zu stark dezimiert wurde, dass sie selbst durch die (zwischeneiszeitlich bedingten) Nahrungsausfälle keinen Migrationsdruck verspürte. Die Städte waren schlicht entvölkert – im Wortsinne „ausgestorben“. Mit der Industrialisierung beschleunigte sich auch die Landflucht – begünstigt auch durch den Wegfall innerstaatlicher Grenzen und den schier unersättlichen Arbeitskräftebedarf der Industriegebiete, die vormals ländliche Ortschaften in rauchende Schlotwüsten verwandelten. In den wuchernden Städten gab es Arbeit, gab es eine Perspektive. Dieser Trend ist weltweit ungebrochen und nimmt mit zunehmender Industrialisierung (in ärmeren Ländern auch gerne als „Entwicklungshilfe“ bezeichnet) eher zu als ab. Geht Urbanisierung auch smart? Eine Verstädterung stellt jedoch eine Gesellschaft vor andere Aufgaben als eine ländlich geprägte Siedlungsweise mit kleinen Ortschaften und einer engeren Anbindung an die eigene Versorgung: der Ressourcenbedarf muss organisiert werden. Unzureichende Versorgung der Bewohner in Ballungsräumen führt zu Katastrophen wesentlich größeren Umfangs als auf dem „platten Land“. Und die Slums von Rio bis Kalkutta (einschließlich ihrer Vorläufer im Paris und London des 19. Jahrhunderts) zeigen nachdrücklich, wohin eine ungeordnete Urbanisierung führen kann. Die Organisation einer Stadt (einer wirklich großen Stadt, derer wir in Deutschland ja nur wenige haben) bindet enorme Ressourcen. Daher verfallen Städteplaner zunehmend auf die Idee, die Vernetzung der Haushaltsgeräte zu einem „Smart Home“ auch gleich auf eine ganze Stadt auszudehnen: die „Smart City“.2 Das klingt zunächst pfiffig, denn statt tausende chronisch überlastete Angestellte mit Aufgaben wie der Überwachung der Verkehrsströme und der funktionierenden Infrastruktur zu beschäftigen, überlässt man die Arbeit ein paar Silikonchips, die untereinander ausmachen, an welcher Straße die Ampeln geschaltet werden, wie hoch der Strombedarf eines einzelnen Stadtteils ist und wo die Wasserzuteilung gedrosselt werden kann. Dazu benötigt es Daten, sehr viele Daten. Diese Bewegungsdaten werden bereits erhoben, sie reichen aber bei weitem noch nicht aus und werden in Zukunft voraussichtlich noch viel direkter in den Alltag der Bewohner eingebunden sein. Das läuft für manchen Mitmenschen entweder unter Utopie oder unter Dystopie, je nach persönlicher Weltanschauung. Es hat aber noch eine weitere, soziale Komponente: die technokratische Urbanisierung verdeckt einen wichtigen Aspekt zwischenmenschlicher Interaktion: unsere Konfliktfähigkeit. Die Stadt als Konfliktherd „If you can’t stand the heat, stay out of the kitchen!“ Städte sind ja nicht nur Fluchtpunkte vieler Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebens- und Wertvorstellungen, sie sind auch immer der Ort gewesen, von dem gesellschaftliche Umwälzungen ausgingen. Es ist schwer vorstellbar, dass beispielsweise die Französische Revolution in einer Bauernkate in der Provençe beginnen hätte können, oder dass die Oktoberrevolution in Sibirien ihren Anfang genommen hätte. Erst aufgrund der großen Ballung unterschiedlicher Lebens- und Wertevorstellung entsteht eine Art „Reibungshitze“, die die Anziehungskraft einer Stadt ausmacht. Denn neben einer wirtschaftlichen Perspektive bieten Städte vor allem ein größeres Maß an individueller Freiheit: Stadtluft macht immer noch frei. Nirgends sonst lässt sich so leicht und schnell mit Traditionen und gesellschaftlichen Konventionen brechen wie in der Stadt. Das ist für manche ein Alptraum – und für andere die Erfüllung. Das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Werte und Anschauungen birgt neben der organisatorischen Herausforderung eben auch ein Konfliktpotenzial. Damit umgehen zu können und es bewältigen zu können, erfordert von allen Bewohnern Lern- und Anpassungsfähigkeit. Wer mit der dörflichen Enge (die ja oft in völligem Kontrast zur geografischem Weite steht) nicht zurechtkommt, zieht eben weg. In der Stadt geht das nicht, da müssen alle miteinander auskommen. Und das funktioniert, denn Menschen sind ja nicht nur anpassungsfähig, sondern auch kommunikativ. Sie lernen, gewaltfrei Konflikte zu lösen, rechtzeitig mögliche Konflikte zu erkennen und zu entschärfen – oder sie auszutragen. Es ist im Gegenteil sogar so, dass Menschen Konflikte brauchen, um daran zu lernen. Konflikte sind die andere Seite unserer Kreativität. Ohne Konflikte (auch innere) brauchen wir keine Kreativität. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Eine „smarte City“ ist aber dafür ausgelegt, das Zusammenleben in der Stadt möglichst konfliktarm zu regeln, denn Algorithmen brauchen Regeln, keine Auseinandersetzung, aus der sie lernen können. Wenn die „smarte City“ aber nun uns dieser Konfliktmöglichkeiten beraubt: Beraubt sie uns dann auch der Kreativität? Bildquelle: http://wiki.laptop.org/images/9/93/XO‑1.5_Motherboard_Bottom_C1.jpg Menschen nehmen Unannehmlichkeiten und sogar den Tod in Kauf, weil sie darin mehr Perspektive erkennen als im Bleiben – und nicht, weil sie schöne Bilder von ihrem Ziel gesehen haben. ↩Smarte Cities: Google Utopia oder Open City – ZDFmediathek: https://www.zdf.de/ ↩Teilen mit:MastodonWhatsAppE‑MailMehrDruckenLinkedInTelegramPinterestGefällt mir:Gefällt mir Wird geladen … thinkware GeschichteGesellschaftUrbanisierung
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