Mind the gap! 17.03.201922.04.2019 Am 23. Mai 1618 warfen die empörten Vertreter der zumeist evangelischen böhmischen Stände die beiden Statthalter des katholischen deutschen Kaisers aus dem Fenster. Damit begann der 30-jährige Krieg – und das Ende des Mittelalters.1 Das Fenster der Prager Burg, das den beginn des Dreißigjährigen Kriegs markiert. Wie man aber sowohl im Alltag sieht als auch im Geschichtsunterricht gelernt hat, lässt sich weder die Realität noch die Geschichte in ein simples binäres System von „Schwarz-Weiß “ oder „Gut-Böse“ einteilen. Alle Ereignisse haben eine Vorgeschichte und Folgen, die nicht geradlinig sind, sondern Glieder in zahlreichen Verkettungen aus Ereignissen und Entwicklungen, die sich nie vollständig überblicken lassen. Wir Menschen haben die Fähigkeit, diese Kettenglieder aneinander zu hängen, miteinander in Beziehung zu setzen und daraus eigene Narrative zu erzeugen, mit denen wir uns die Welt zu erklären versuchen. Dass diese Bezüge aufgrund unseres eingeschränkten Wahrnehmungsvermögens natürlich nur kleine Ausschnitte darstellen, versteht sich eigentlich von selbst. Und dennoch nehmen wir sie oft als die ganze „Wahrheit“ an (und wehren uns erbittert gegen alles, was dies in Frage stellen könnte). Vor allem bei Fragen, die uns nicht direkt betreffen oder jenseits des alltäglichen Horizonts liegen, stellen sich Menschen oft weitaus dümmer an als eine Horde Schimpansen. Und davon handelt das letzte Buch des verstorbenen Arztes und Autors Hans Rosling: Factfulness Der Begriff des Factfulness ist eine Anspielung an die Vorstellung der „Mindfulness“ und bezieht sich auf die bewusste Wahrnehmung der eigenen Verständnislücken bei der Wahrnehmung der Welt. Und so beginnt auch Herr Rosling zunächst mit scheinbar harmlosen Fragen, die nach dem Schema des „Multiple-Choice-Verfahrens“ beantwortet werden sollen: What is the life expectancy in the world today (2016)? A. 50 years B. 60 years C. 70 years Das Erstaunliche: selbst in noch so aufgeklärten und gebildeten Gesellschaftsgruppen wie englischen Absolventen der Elite-Universitäten oder Chefs globaler Unternehmen (von Politikern ganz zu schweigen) liegt die Wahrscheinlichkeit der richtigen Antworten nicht höher als bei einer Horde Schimpansen, die eine Banane in einen von drei Behältern werfen sollen. Während letztere die richtige Antwort C mit einer 33-prozentigen Wahrscheinlichkeit treffen, schneiden wir Menschen mit all unserer Bildung oft schlechter ab. Der Grund ist eigentlich ganz einfach: wir lassen uns von Gefühlen und Instinkten beeinflussen, die mit der rationalen Auseinandersetzung nichts zu tun haben: unsere Instinkte und Gefühle haben uns jahrtausendelang das Überleben ermöglicht2, in einer komplexen Welt aber behindern sie uns dabei, nachhaltige und zweckmäßige Lösungen zu erkennen. Die Abnahme der globalen Armut innerhalb der letzten 200 Jahre © Rosling Dabei sind wir endlich wie kein anderes Lebewesen in der Lage, unsere Welt zu beeinflussen und für alle zu einem besseren Ort zu machen. Voraussetzung dazu ist allerdings neben der Kooperation die faktenbasierte Erfassung unserer Welt. In order for this planet to have financial stability, peace and protected natural resources, there’s one thing we can’t do without, and that’s international collaboration, based on a shared and fact-based understanding of the world. The current lack of knowledge about the world is therefore the most concerning problem of all. (H. Rosling) Inhalt Hans Rosling, Factfulness, Flatiron Books, New York 2018, ISBN 978 – 1‑250 – 10781‑7 Für Hans Rosling besteht das Problem in erster Linie darin, dass wir als Menschen eigentlich noch oft in unsere archaische Verhaltensweisen zurückfallen, die in einer komplexen Welt der Bewältigung anstehender Probleme im Weg stehen. In seinem Buch versucht er diese archaischen Reflexe auf wenige Faktoren „einzudampfen“, um dem Leser vor Augen zu führen, welche Denkfehler und ‑muster er vermeiden sollte, um zu einem faktenbasierten Verständnis zu gelangen, auf dessen Grundlage sich die vorhandenen globalen Probleme diskutieren und nachhaltig angehen lassen. Das Bestechende an seinen Überlegungen ist, dass er versucht, diese Probleme auf Fakten zurück zu führen, die von den unterschiedlichen globalen Einrichtungen wie der UN zusammengetragen wurden, und damit eine Diskussionsgrundlage liefern, auf der sich rational argumentieren lässt. Diese zehn Punkte sehen folgendermaßen aus:3 Der „Gap Instinct“: Menschen neigen dazu, die Welt dichotomisch zu sehen, um zu schnellen Entscheidungen zu gelangen: dafür oder dagegen, gut oder böse, arm oder reich. In der Realität allerdings liegt das Meiste irgendwo in der Lücke dazwischen. So wie die meisten Menschen weder in bitterster Armut noch in exorbitantem Luxus leben und Menschen nicht unbedingt böse sind, weil sie eine andere politische Überzeugung vertreten, sollten wir uns angewöhnen, auf das zu achten, was zwischen den Extremen liegt. Dementsprechend teilt auch das Buch die Einkommensverhältnisse nicht in ein simples „Arm oder Reich“, sondern in vier Gruppen mit graduell wachsendem Wohlstand. Und – nicht verwunderlich: die meisten Menschen auch in „armen“ Ländern haben es in den letzten 30 Jahren geschafft, der bitteren Armut zu entkommen. Der „Negativity Instinct“: Für die meisten Menschen ist das Glas halb leer und nicht halb voll. Die Neigung, lieber das Schlechte zu sehen, kann uns das Leben retten, es kann aber auch unsere Neugier und unser Lernen beeinträchtigen. Wer davon ausgeht, dass die Welt schlechter wird, der trägt nicht mehr dazu bei, sie besser zu machen. Der „Straight Line Instinct“: wir können nicht in die Zukunft sehen, deshalb benutzen wir unsere Erfahrungen und extrapolieren sie in die Zukunft. Dabei fallen sehr viele Unwägbarkeiten wie klimatische oder technologische Entwicklungen unter den Tisch, die aber die „gerade Linie“ unserer Extrapolation in eine ganz andere Richtung biegen können. Der „Fear Instinct“: Furcht ist ein sehr mächtiges Motivationsmittel, aber ein schlechter Berater. Furcht ist eine Emotion, die uns Menschen dazu bringt, kurzzeitig gewaltige Anstrengungen zu unternehmen, die langfristig aber zu nachteiligen Ergebnissen führen können. Furcht motiviert (und wird deswegen in der Öffentlichkeit gerne dazu benutzt, um kurzzeitige Ziele durchzusetzen), aber sie blockiert vernünftige und nachhaltige Lösungen. Der „Size Instinct“: Wir verschätzen uns als Menschen oft bei den Maßstäben – ein Relikt aus unserer Vergangenheit. Alles, das jenseits unserer unmittelbaren Anschauung liegt, ist entweder zu klein oder zu groß oder unterliegt subjektiven Maßstäben. Dabei verschätzen wir uns auch in den relativen Dimensionen, indem wir die Maßstäbe unseren Vorstellungen anpassen.4 Der „Generalization Instinct“: Die unvorstellbare Zahl an Menschen auf diesem Planeten und Möglichkeiten, die jeden von uns begleiten, löst einen weiteren archaischen Reflex in uns aus – wir verallgemeinern. Das ist auch gut so, denn wenn wir unsere Welt nicht in Kategorien und Gruppen einteilen, verlieren wir den Überblick und damit die Kontrolle über unser Leben. Allerdings endet dabei auch oft unsere Wahrnehmung. Wir werden ein Opfer unserer eigenen Begrenzung, indem die Verallgemeinerung eher dazu dient, unsere Vorurteile zu bestätigen als die Unterschiede wahrzunehmen, die innerhalb der von uns selbst gesetzten Kategorien bestehen. Der „Destiny Instinct“: Die alltägliche Informationsflut – ob positiv oder negativ – lässt uns oft vergessen, dass wir ja in der Lage sind, unser eigenes Leben mitzugestalten und nicht alles einfach „Schicksal“ ist. Wir neigen als Menschen dazu, unser eigenes Phlegma hinter einer nebulösen Vorstellung von Vorbestimmung zu verstecken statt Einfluss nehmen zu wollen und zu gestalten. Der „Single Perspective Instinct“: Rosling benutzt das bekannte Bild des Menschen, der nur einen Hammer als Werkzeug kennt – und für den jedes Problem daher ein Nagel ist. Wir Menschen denken, dass es eine einzige Lösung für alles geben muss – ob Weltverschwörung oder Weltformel – und übersehen dabei, dass die Realität weitaus komplexer ist. Was zu einem Zeitpunkt in einer Situation richtig ist, muss noch lange nicht zu einem anderen Zeitpunkt in einer anderen Situation richtig sein. Der „Blame Instinct“: Menschen sind soziale Wesen, wir wollen Anerkennung durch unsere Umwelt erfahren, selbst wenn wir irren. Daher tun wir uns auch sehr schwer damit, Verantwortung zu übernehmen für unser Handeln. Wenn trotz guter Absichten die Folgen anders als gewünscht ausfallen, sind wir nur allzu gerne bereit, die Schuld auf andere abzuwälzen, obwohl wir eigentlich mitverantwortlich sind durch unser Verhalten – oder unser Nicht-Handeln. Der „Urgency Instinct“: Menschen haben eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, gerade in einer Industriegesellschaft, in der wir unabhängig von Jahreszeiten und Klima uns daran gewöhnt haben, Probleme schnell lösen zu müssen – ohne zu bedenken, dass es Dinge gibt, die einen langen Vorlauf haben und nicht „jetzt“ gelöst werden können. Oft werden Probleme daher so lange auf die lange Bank geschoben, bis sie tatsächlich „dringend“ werden.5 Bei diesen zehn Punkten handelt es sich laut Rosling nie um Kategorien, die unabhängig voneinander unsere Fehleinschätzungen verursachen – meist entfalten sie ihre Wirkung erst in Kombination. Fazit Das Buch von Hans Rosling ist ein Appell an uns, unsere eigene Motivation und Weltsicht zu hinterfragen auf ihre Faktentreue. Denn erstaunlicherweise geht es da einem afrikanischen Bauern nicht anders als einem Vorstandsmitglied eines milliardenschweren globalen Konzerns: wir haben sehr viel weniger Ahnung von der Welt als wir eigentlich haben müssten, um unser Leben und unser aller Probleme lösen zu können. Ein Rückgriff auf Fakten hilft uns dabei, uns nicht selbst ein Bein zu stellen, denn gut gemeint ist nicht unbedingt auch gut gemacht. Nachtrag In die gleiche Kerbe schlägt auch der Klimaforscher Reto Knutti, hier bei der Preisverleihung der Schweizer Stiftung Brandenberg. 1648 wird gerne als der Beginn der Neuzeit angesehen, während es in Wirklichkeit das Ende einer Reihe von Feldzügen darstellte, die in Deutschland zur Verwüstung und Verelendung ganzer Landstriche führten – vor allem im vormals reichen Kultur- und Handelsraum entlang der Elbe. ↩Lieber einmal zuviel vor einem krummen Stock flüchten, der auf dem Boden liegt, als auf eine schlafende Giftschlange treten. ↩Da ich den englischsprachigen Originaltext gelesen habe, belasse ich die Begriffe Des Originals. ↩Beispielsweise sterben in Deutschland im Straßenverkehr in jedem Jahr trotz sinkender Unfallzahlen wesentlich mehr Menschen (2017: 3180) als durch terroristische Anschläge – und trotzdem wird die Gefahr durch Terrorismus wesentlich höher eingeschätzt als die Gefahr, im Straßenverkehr zu sterben. ↩Ein Beispiel ist die aktuelle Klimapolitik: ein Problem, dass seit mehr als fünfzig Jahren immer wieder verschoben wurde, bis die Situation soweit eskaliert ist, dass nun dringend drastische Handlungen erforderlich sind – und natürlich entsprechende Reaktionen hervorrufen. Statt rechtzeitig zu agieren, ist jetzt die Dringlichkeit entstanden, die möglicherweise die Aktionen auslöst, die schon längst ohne Dringlichkeit hätten durchgeführt werden können. ↩Teilen mit:MastodonWhatsAppE‑MailMehrDruckenLinkedInTelegramPinterestGefällt mir:Gefällt mir Wird geladen … thinkware GesellschaftPolitikWirtschaft
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