Mir ist heute ein Blatt bedrucktes Papier in den Briefkasten geworfen worden, dessen plakative und eigenartige Diktion mich doch nachdenklich gemacht hat: „Überzogene Lohnforderungen gefährden weitere Arbeitsplätze in Bayern!“
Urheber ist der Verband der bayerischen Metall- und Elektroindustrie e.V., ein Interessenverband des deutschen Handwerks. Als freiberuflicher Technischer Redakteur fühle ich mich nur indirekt angesprochen, denn meine Entlohnung hängt natürlich auch von der Kaufkraft der deutschen Metall- und Elektroindustrie ab. Allerdings kenne ich das entsprechende Problem der überzogenen Honorarforderungen nur indirekt, da dies üblicherweise nicht in einem Verlust von Arbeitsplätzen resultiert, wie mir das Schreiben nahe legt, sondern in einem unmittelbaren Verlust des Auftrags.
Sei’s drum, ich will das Schreiben mal quer lesen:
- Teurer Standort: Hohe Löhne = weniger Jobs. Mit dem Argument, dass eine Arbeiterstunde in Deutschland um 38% teurer sei, als in „unseren“ wichtigsten Konkurrenzländern gehen meine Verständnisprobleme los: Ein Handwerker verdient in diesem Land brutto monatlich 2542 Euro (Quelle: Statistisches Bundesamt). Das macht um die 15,88 Euro pro Stunde, wenn wir von 160 Arbeitsstunden im Monat ausgehen. Er liefert dafür so gute Arbeit ab, dass dieses Land seit Jahren zu den weltweit stärksten Exportländern gehört.
Wenn also trotzdem die Löhne um 38% sinken sollen, bekommt ein Arbeiter in Deutschland nur noch ca. 1576 Euro pro Monat. Brutto. Damit kann er sich aber nicht mehr viel kaufen. Also muss er, um auf seinen alten Bruttolohn zu kommen, 64 Stunden in der Woche arbeiten. Mal abgesehen davon, dass sein Arbeitgeber dies auch akzeptieren darf, kann ich nicht erkennen, wo denn da noch Jobs herkommen sollen. - Neue und sichere Jobs steigern die Kauflaune. Das nennt man Autosuggestion. Neue Jobs steigern nicht die Kauflaune – Geld in der Spekulationskasse schon (Grundkurs Volkswirtschaft). Mal abgesehen, dass sich die Gleichsetzung von niedrigem Einkommen und mehr Beschäftigung auch bei den Monetaristen mittlerweile als Unfug herumgesprochen hat (schließlich muss man die Kuh füttern, die man melken will), können aus niedrigen Lohnforderungen nicht neue Jobs entstehen, denn bisher sind gerade die Niedriglohnjobs wegrationalisiert worden.
- Unternehmen: Nicht nur Gewinner. Das ist mir nicht klar: Unternehmen müssen Gewinne machen. Dies machen sie, indem sie ihre Produkte verkaufen. Und zwar entweder durch subventioniertes Preisdumping oder durch Innovation und Service. Ersteres funktioniert aber nur bei Massenartikeln wie T-Shirts. In diesem Sektor wird in Deutschland aber schon lange nicht mehr nennenswert produziert. Bliebe die Innovation. Wer aber ist für 9,85 Euro in der Stunde innovativ?
- Inflation: Unternehmen genauso belastet wie Arbeitnehmer. Das ist korrekt. Normalerweise ist das ein Nullsummenspiel: Unternehmen geben im Gegensatz zu Arbeitnehmern die Inflation über die Preise weiter. Und da klemmt es wieder: „Eine Berücksichtigung der Inflationsrate in den Lohnerhöhungen würde die Unternehmen doppelt belasten“. Wie? Wenn die Löhne von der Inflation abgekoppelt werden, wie bleibt dann die Kaufkraft erhalten, die wir doch für den Konsum benötigen? Und woran koppeln wir die Löhne dann? An den guten Willen des Arbeitgebers?
- Exportweltmeister Deutschland: Titel ohne Wert. „Deutsche Metall- und Elektroprodukte bestehen zu 65% aus im Ausland hergestellten Vorprodukten.“ So herum: 35% der Vorprodukte werden hier hergestellt. Und zwar Vorprodukte, deren Endprodukt wiederum hier hergestellt wird. Mit anderen Worten: die Wertschöpfung findet hier statt. Ist das nicht gut so? Wir werden doch nicht Exportweltmeister, wenn wir Knöpfe verkaufen. Wir verkaufen die Maschinen, mit denen die Knöpfe gemacht werden.
Also Leute vom Verband der bayerischen Metall- und Elektroindustrie, mit diesem unausgegorenen Zeug macht Ihr Euch nur unglaubwürdig. Lasst euch das von einem selbstständigen Unternehmer gesagt sein.