Arbeitswelt: Sind wir nicht alle ein bisschen passgenau? 17.05.201401.02.2022 Als Selbstständiger muss man sich ja häufiger noch als ein Festangestellter um das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer kümmern. Dieses Verhältnis lässt sich vermutlich vergleichen mit der Situation eines Arbeitnehmers bei Bewerbungsgesprächen, denn es kreist immer um die zentrale Frage: „Wie passen die Vorstellungen des Auftraggebers/Arbeitgebers und die Vorstellungen des Auftragenehmers/Arbeitnehmers zusammen?“ Das ist die Frage nach der „Passgenauigkeit“. Antwort: die Frage ist falsch. Zumindest teilweise. Der Begriff „Passgenauigkeit“ taucht häufig auf, wenn es um die Bewerbung eines Arbeitnehmers um eine Stelle in bei einem Arbeitgeber geht, von dem sich der Bewerber eine Tätigkeit erwartet, bei der er seine Vorstellungen von Karriere/Einkommen/Tätigkeit einbringen kann und entsprechend honoriert sieht. Ein Technischer Redakteur erhofft sich beispielsweise einen einigermaßen krisenfesten Job mit klar umrissenem Aufgabengebiet (möglichst eines, in dem er sich schon auskennt), angemessener Entlohnung und moderater Aufstiegsmöglichkeit. Nicht besonders ehrgeizig, möchte man meinen. Stimmt. Die eine Seite … Mit anderen Worten: der aspirierende Arbeitnehmer kommt mit der Kenntnis der Stellenbeschreibung (auf die hin er sich beworben hat) und versucht auszuloten, inwieweit er damit seine Lebensplanung für die kommenden Jahre verwirklichen kann. Das Ergebnis seiner Tätigkeit spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Erstaunlicherweise ähnelt dies sehr der Situation eines Selbstständigen, denn auch ihm ist – erste Überraschung: möglicherweise im Gegensatz zur landläufigen Meinung – an einem dauerhaften Verhältnis gelegen. Auch für den „Freien“ ist es wesentlich lukrativer und vor allem entspannter, wenn er sowohl mit der Thematik als auch mit den Prozessen des Auftraggebers vertraut ist. Auch der „Freie“ möchte einen guten Auftraggeber nicht verlieren. … und die andere Seite Aber wie sieht das auf der anderen Seite des Tisches aus? Nächste Überraschung: ziemlich ähnlich. Auch der Arbeitgeber will sich nicht alle paar Monate einen neuen Arbeitnehmer/Auftragnehmer suchen, weil er weiß, dass dies zu Verzögerungen und Mehraufwand führt. Arbeitgeber/Auftraggeber haben allerdings einen anderen Blickwinkel auf das Arbeitsverhältnis: Für sie steht der Unternehmensgewinn im Vordergrund. Oder ganz archaisch: Was bringt mir der Mann/die Frau und was kostet er/sie mich? Die Frage ist allerdings nur unvollständig und daher eben falsch. Denn auch wenn es – abhängig von der allgemeinen Arbeitsmarktlage – auf der Ebene des Stellenangebots und der Stellennachfrage fast schon Waffengleichheit gibt (Stichwort „Fachkräftemangel“), so bringen beide Verhandlungspartner doch sehr ungleiche Waffen mit an den Tisch, die letztendlich für jene Passungenauigkeit sorgen. Der Lackmustest Ungleichheit besteht nämlich in der Anpassungsfähigkeit an Prozesse, ganz allgemein gesprochen. Jeder Arbeitnehmer und auch Auftragnehmer, also „Freie“, hat sich im Laufe seiner Berufstätigkeit ein eigenes Repertoire an Durchführungsschritten und ‑optionen erarbeitet, mit denen er den meisten Erfolg zu haben glaubt. Ein Technischer Redakteur hat beispielsweise einen bestimmten Blickwinkel auf die technische Dokumentation: sie muss normgerecht sein, vollständig und zum sicheren Betrieb befähigen. Dazu hat er sich einen Werkzeugkasten angelegt: Recherche, Korrekturläufe, Terminologiedefinitionen („Lampe“ oder „Leuchte“?), Datenaustausch, und so fort. Diese bringt er mit in der Hoffnung, dass sein Arbeitgeber/Auftraggeber sie auch benötigt. Zwar kann er diese Prozesse beliebig miteinander kombinieren und je nach Auftrag auch gewichten, sie sind jedoch das Pfund, das er in die Waage werfen kann. Spezifische Produktkenntnisse gehören jedenfalls nicht dazu. Auf der anderen Seite sind die Prozesse des Arbeitgebers: sie sind klar definiert und nur wenig flexibel, denn hinter diesen Prozessen stehen zahlreiche Mitarbeiter, die erfolgreich miteinander das Produkt erstellen sollen. Selbst wenn es nirgends fixiert ist, so sind diese Prozesse etabliert („Das machen wir immer so!“). Sie dürfen und können nicht für jedes Produkt oder jeden Mitarbeiter neu verhandelt werden. Dazu zählen beispielsweise die Terminierung und die Entscheidungswege. Bei der Passgenauigkeit geht es also weniger um die Vorstellungen des Arbeitnehmers respektive Arbeitgebers, sondern um die auf jeder Seite mehr oder weniger vorhandene Flexibilität. Naturgemäß sind Unternehmen in dieser Hinsicht starrer – allen marketinggerechten Aussagen zum Thema Flexibilität zum Trotz, die oft nur das Chaos überdecken sollen –, während Arbeitnehmer flexibler sind und auch sein müssen. Der Lackmustest ist der Versuch, die Flexibilität der Prozesse des Anderen auszuloten und herauszufinden, an welchem Punkt die Schmerzgrenze erreicht ist. Die eigene Flexibilität ist bei einem Selbstständigen mehr noch gefordert als bei einem Festangestellten, denn der Selbstständige hat weniger Möglichkeiten, auf die Beweglichkeit des Auftraggebers zu bauen. Dafür kann er, wenn es denn partout nicht klappt, den Auftrag ablehnen oder es bei einem Auftrag bewenden lassen. Ein Arbeitnehmer besitzt demgegenüber mehr Gestaltungsmöglichkeiten, diesen Prozess anzupassen. Resümee „Passgenauigkeit“ ist kein Erfolgsfaktor bei Bewerbungen. Passgenauigkeit entsteht bei dem Versuch, die Prozesse beider Verhandlungspartner zur Übereinstimmung oder Ergänzung zu bringen. Dazu müssen allerdings beide Seiten ihre eigenen Prozesse klar definieren können. Sich nur an die Prozesse des Gegenübers anzupassen, hilft dem Auftragnehmer/Arbeitnehmer nicht. 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