Acht Generationen 06.01.201520.04.2024 Vor ein paar Wochen hatte ich eine nette ehemalige Kollegin gebeten, mir anlässlich ihrer München-Spaziergänge ein Bild zu schicken, das sie eingescannt hatte. Es zeigt eine Ansicht des Münchner Stadteingangs zu Beginn des 19. Jahrhunderts (vermute ich aufgrund der Kopfbedeckung und der Topografie). Das Tor steht dort nicht mehr, genauso wenig wie die Häuser ringsum. Nur die Kirche im Hintergrund, die gibt es noch: es ist die Theatinerkirche. Der Standpunkt des Malers dürfte in etwa dort sein, wo heute der U‑Bahn-Ausgang Odeonsplatz liegt und die Galeriestraße von Osten in die Ludwigstraße mündet (siehe Bild unten). – Vielleicht auch ein bisschen weiter östlich, denn was heute mit Photoshop machbar ist, haben die Maler früherer Zeit durch eine geschickt gewählte Perspektive und „Zurechtrücken“ der Objekte hergestellt: dem Bild etwas „Dramatik“ verliehen. Oder Größe. Im Falle Münchens war das auch nötig, denn die heutige Maxvorstadt, in der der Maler seine Staffelei aufgestellt hatte, gab es damals noch nicht. Sie wurde erst 1825 ausgebaut und nach ihrem Auftraggeber, König Max I., benannt. Was mich allerdings noch viel mehr beeindruckt an dem obigen Bild ist der ungeheure technische Fortschritt1, der zwischen den beiden Darstellungen liegt. Nicht so sehr der Fortschritt in der Malerei, denn diese arbeitet wie damals nach den gleichen Methoden, sondern der technische Fortschritt der Objekte. Zwischen beiden Aufnahmen liegen etwa 200 Jahre, also acht Generationen. Acht Generationen, in denen die Industrialisierung in diesem Teil der Welt ihre volle Wucht entfaltete. Acht Generationen mit Kriegen, Leid, Zerstörung, Hass, Verzweiflung, Freundschaft, Zusammenarbeit, Liebe und Mut. Acht Generationen, die uns in diesem Teil der Welt vor allem suggerieren, dass mit Hilfe der Technik alles möglich sein kann: Fuhren auf dem obigen Bild die Menschen noch auf Fuhrwerken zu ihrer Arbeit oder transportierten Güter, so übernehmen das heute Nahverkehr und Automobil. Es gibt auch keine morastigen Wege mehr, sondern shampoonierte Straßen2, es gibt eine Kanalisation, wo früher der Dreck einfach hinters Haus gekippt wurde. Vor der Stadt – zum Beispiel in Schwabing, das damals ein eigener Ort war – lagen die Spitäler, in denen man die Alten und Kranken einfach „offshorte“ (wie das auf neudeutsch heißt). Man machte damals einfach die Tore zu und das „Gschwerl“ (bayerisch) oder der „Plebs“ (latinisiert) blieb draußen. Das, meine Leser, war die „gute alte Zeit“, nach der sich Mancher zurücksehnt, wenn die Geschäftigkeit und der Trubel der heutigen Pluralität das persönliche intellektuelle Fassungsvermögen übersteigen. Es gab einen König und keine Wahlen. Es gab die Todes- und viel schlimmer noch: die Zuchthausstrafe für diejenigen, die sich mit der ständischen Ordnung nicht abfinden konnten oder mochten. Es gab allerdings einen Ausweg: man konnte auswandern. Nach Nordamerika beispielsweise, wo man dann den Schwächeren das Land wegnahm, sie umbrachte oder zur Sklavenarbeit zwang. Diesen Ausweg haben wir heute nicht mehr. Dafür aber haben wir die Mobilität und offene Grenzen. Wenn uns das Stadtleben in München nicht passt, können wir in die nordostdeutsche Provinz auswandern. Dort darf man dann zwar keinem Menschen mehr ungestraft das Land wegnehmen, aber man hat seine Ruhe: kein Internet, (fast) keine Krankenhäuser, wenige Straßen. Sogar Fuhrwerke gibt es dort noch. Vorindustriell sozusagen. Zumindest beinahe, denn die Industrialisierung hat zu gravierenden Umwälzungen in unserer Gesellschaft geführt, denen sich man nur entziehen kann, wenn man ganz dem europäischen Einflussraum entflieht: Dort, wo die Menschen noch leben wie vor hunderten von Jahren. Ohne Schulen, ohne Bildung, ohne industrielle Arbeit, ohne Ärzte, ohne Lehrer, ohne Technik, ohne Chancengleichheit. Wo der Ständestaat noch existiert. Allerdings gibt es auch dort Menschen, die diesem Leben wiederum entfliehen wollen. Weil die Folgen der Industrialisierung für uns Europäer eben zu einem angenehmeren Leben mit einem gewissen Wohlstand, Sicherheit, Meinungsfreiheit und ruhigerem Schlaf geführt haben. Ich bin jedenfalls froh, dass meine Altvorderen vor 200 Jahren in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung nicht einfach dort steckengeblieben sind. Und in seiner Folge die gesellschaftlich-kulturellen Umwälzungen, die für die Industrialisierung notwendig waren. ↩Die Stadtreinigung arbeitet nicht nur mit Wasser. ↩Teilen mit:MastodonWhatsAppE‑MailBlueskyMehrDruckenLinkedInTelegramPinterestGefällt mir:Gefällt mir Wird geladen … Europa Geschichte
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