Warten aufs Rotkäppchen 06.03.201514.03.2015 Das Unwort des Jahres 2002 war die „Ich AG“. Und das zu Recht. Unterstellt der Begriff doch jedem Arbeitswilligen das Potenzial, sich als „Ein-Mann-Unternehmen“ in der Arbeitswelt behaupten zu können. Dahinter aber steht auch die Hoffnung, über einen einfachen statistischen Trick die Arbeitslosenzahlen nach unten drücken zu können: wer selbstständig geworden ist und trotzdem verhungert, der fällt direkt durchs soziale Netz in die Sozialhilfe. Und wer es dank der Förderung schafft, arbeitet an der Grenze zur Selbstausbeutung. Diederich H. war ein schwächliches Kind. Nicht unbedingt physisch, denn er war groß und stattlich, aber Entscheidungsfreudigkeit und Pragmatismus waren ihm schon seit seiner Kindheit unheimlich geblieben. Er stand in der Blüte seines Arbeitslebens, als seine Firma schließen musste, in der er nach seiner Ausbildung zum Rundfunk- und Fernsehelektriker fünf Jahre als Techniker für die Wartung des Netzwerks gearbeitet hatte. Die Schließung kam nicht von ungefähr, denn die Auftragslage war mehr als schlecht. So also meldete sich Diederich H. beim Arbeitsamt, wo ihm aufgrund der katastrophalen Aussichten auf eine Anstellung in seiner bisherigen Tätigkeit eine Umschulung empfohlen wurde. Mobilität und Flexibilität beweisend (und auch zu bequem, selber eine Wahl zu treffen), nahm Diederich H. an. Er wurde in einem sechswöchigen Kurs, den das Arbeitsamt bezahlte (in der Zwischenzeit hieß sie Agentur – bezahlte aber trotzdem) zum technischen Illustrator ausgebildet, denn – so der freundliche, aber bestimmte Herr der Agentur – diese Ausbildung sei in Deutschland und dem europäischen Ausland derart Mangelware, dass sich auf alle Fälle eine Anstellung finden lassen müsse, selbst wenn er derzeit keine aktuelle habe. Glücklicherweise war Diederich H. ledig, so dass ihm auch der Umzug ins schöne Thüringen für die Dauer des Kurses nicht viel ausmachte. Auch nicht die Unterbringung in der ehemaligen Sowjetkaserne, deren Renovierung erst in mehreren Jahren vom Kursveranstalter angestrebt wurde. Gemeinsam mit zehn weiteren Aspiranten auf die zukunftsträchtige Tätigkeit wurde er technischer Illustrator. Als er nach weiteren zehn Monaten und ungefähr 98 Bewerbungen immer noch keine Anstellung gefunden, wohl aber wohlwollende Vorstellungsgespräche im gesamten Bundesgebiet geführt hatte, wurde er unruhig. Der nette Herr in der Agentur, bei der er regelmäßig vorstellig wurde, war in der Zwischenzeit in den wohlverdienten Ruhestand versetzt und die Abteilung aus Personaleinsparungsgründen mit zwei weiteren zusammengelegt worden. Man konnte ihm trotz der angepeilten Synergieeffekte leider nicht weiter helfen, als ihn um Geduld zu bitten, da sich die allgemeine Wirtschaftslage entgegen aller Prognosen noch nicht soweit gebessert habe. Nach weiteren drei Monaten der Arbeitslosigkeit setzte ihm die Agentur dann die Pistole auf die Brust: Sozialhilfe oder Ich AG in Form eines Dienstleisters für die internettaugliche Aufarbeitung von Medien der internationalen Filmbranche. „Nun gut, ich bin nicht dumm, und außerdem zahlt mir die Agentur eine weitere Ausbildung, um mir den Start in die Selbstständigkeit zu erleichtern.“ Er bekam einen Coach zugeteilt, der bereits über 100 weitere Arbeitswillige fit gemacht hatte. An fünf Tagen verteilt über drei Wochen wurden ihm die Grundbegriffe der Selbstvermarktung beigebracht, die er abends üben musste, um sie in seinen aktiven Wortschatz einzufügen. Zwar konnte er sich unter Begriffen wie „Marktpenetration“, „Best Practice“ und „Private Equities“ nicht viel vorstellen (oder teilweise nicht dass, was der Coach meinte), aber er beherrschte sie bald wie aus dem FF und brachte sie auch zunehmend überzeugter in jedwede Diskussion ein. Ein Teil der Ausbildung sei ja auch die komplette Assimilation der Lebenswirklichkeit eines Selbstständigen, so der Coach. Ein weiterer Teil ist die exakte Planung der kommenden zwei Jahre, insbesondere der zukünftigen Einkommenssituation: Diederich H. wollte auch auf Anraten seines Coaches in dem recht anspruchsvollen Bereich der Filmindustrie und an der technologischen Spitze der Streamingtechnologie einsteigen. Er hatte zwar von Letztgenanntem nur wenig gehört, meinte aber aufgrund seiner ursprünglichen Ausbildung als Rundfunk- und Fernsehelektriker dort leichter Fuß fassen zu können – eine Ansicht, in der ihn sein Coach nur bestärkte. Erfahrungsgemäß zahle sich eine fundierte Ausbildung immer aus â?¦ Um nicht gleich mit zu hohen Erwartungen eine Bauchlandung zu erleben, ging Diederich H. gemeinsam mit seinem Coach von einer realen Auftragszahl von zwanzig Projekten im ersten Jahr aus, was ihm einen Umsatz von ca. â?¬ 80.000 brächte. Aus diesem Grund ließ er sich die Startfinanzierung sofort auszahlen und leistete sich mehrere Rechner, die er für eine Renderfarm benötigte, und die entsprechende Software gleich dazu. Den professionellen Umgang wollte er sich per „Learning by doing“ aneignen, so wie es sein Coach ihm riet. Um es abzukürzen: Das Jahr begann verheißungsvoll, da er dank der überragenden Connections seines Coaches auf allen gängigen Messen eine Vielzahl an potenziellen Kunden traf und sprach. Als sich jedoch nach einem halben Jahr immer noch keine Aufträge einstellten – der Vertrag mit seinem Coach hatte ihn mehrere tausend Euro gekostet, auf deren Rückerstattung aus EU-Fördermitteln er noch wartet (sei prinzipiell möglich, hatte sein Coach ihm am Telefon nach der Rechnungsstellung noch mitgeteilt) – beschloss er das erste Mal in seinem Arbeitsleben selbstständig eine Neuorientierung. Er nahm den Begriff der „Ich AG“ ernst und begann, sich anteilsmäßig anzubieten. Natürlich zunächst nur die Körperteile, auf die er verzichten konnte, falls die Anteilseigner insolvent waren, später dann die Körperteile, von denen er noch ein Duplikat besaß („Backup“). Seine Produktionsmittel gehörten zur dritten Stufe: dem Outsourcing. Dazu sinnierte er dazu nächtelang über einen marketingtechnisch geschliffenen Text für eBay nach, den er allerdings noch nicht hat (das Texten hatte immer der Coach für ihn erledigt). Aus dem Erlös plant er eine Eingabe bei der EU, auch Ich AGs börsennotiert zuzulassen. Nur über den Börsengang (das hatte er von seiner Bank) ließen sich die notwendigen Finanzmittel auftreiben, kapitalstark den widrigen Verhältnissen der Weltwirtschaft zu trotzen. Vielleicht kommt er ja mal in den Wirtschaftsteil der FAZ, möglicherweise stückweise. Ich würde mir dazu glatt die Ausgabe kaufen. Teilen mit:MastodonWhatsAppE‑MailMehrDruckenLinkedInTelegramPinterestGefällt mir:Gefällt mir Wird geladen … glosse
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