In Simplicity We Trust 29.08.202107.10.2023 Menschen neigen gerne dazu, ihre Welt sehr stark zu vereinfachen. Bis hin zu einem Punkt, an dem sie den Anschluss an die Gesellschaft verlieren. Ein paar steile Thesen dazu. Warnung: es wird länger. Die Digitalisierungsfrage Seit den Streiks der Drucker in den 70er Jahren, als es um – aus heutiger Sicht – drastische Lohnerhöhungen für die Beschäftigten ging, wurde Industriebranche um Industriebranche erst automatisiert, dann ab Mitte der 1990er Jahre zunehmend digitalisiert. Wo zunächst gefährliche und gesundheitsgefährdende Tätigkeiten wie in der Schwerindustrie den Maschinen überlassen wurden1 , wurde mit der flächendeckenden Einführung der Computer ab den 1990er Jahren auch die Automatisierung digitalisiert. Jetzt waren es nicht mehr nur gefährliche oder anstrengende Arbeitsplätze, mit dem „Kollegen Computer“ wurden auch fehleranfällige Verwaltungsprozesse digitalisiert. Wo vorher Briefmarken aufgeklebt wurden oder Druckwalzen bestückt wurden, rauschten erst die Briefe und Drucksachen mit bislang unvorstellbarer Geschwindigkeit durch die Druckmaschinen, bis dann auch diese Computer kurz darauf durch etwas noch schnelleres ersetzt wurden: das Internet. Aber nicht nur in der Druckbranche haben sich diese Veränderungen bemerkbar gemacht – auch wenn diese Branche traditionell seit Gutenberg zur Speerspitze der Transformation gehört, sondern auch in allen produzierenden Branchen. Ob es um die Bewässerung von Blaubeersträuchern oder die Konstruktion von Fahrgastzellen im Fahrzeugbau geht: ohne die digitalen Rechenknechte, die mit Hilfe ausgeklügelter Algorithmen Unmengen von Daten verarbeiten, geht nichts mehr. Noch vor 30 Jahren war eine zuverlässige Wettervorhersage aufgrund der unzähligen Parameter gerade mal für die kommenden 24 Stunden möglich, heute sind fünf Tage kein größeres Problem… Wer vor Mitte der 1990er sozialisiert wurde, also Jahrgänge vor 1965 etwa, ist mit der Automatisierung groß geworden. Die Digitalisierung ab Mitte der 90er war dagegen „Neuland“. Die Kommunikationsfrage Es wurde schon angesprochen: nach der Automatisierung repetitiver Prozesse kam etwa 25 Jahre später die Vernetzung der Maschinen, die weitaus mehr konnten als mechanische Bewegungen auslösen. Mit dem Siegeszug der Computer bis in die alltäglichsten Tätigkeiten wie Kochen oder Einkaufen hinein war es nicht mehr nur die „Arbeit“, die umgekrempelt wurde, sondern unser Alltag. Damit entrückten viele Prozesse unserem Blick. Wo man vorher noch sehen konnte, wie sich Rädchen drehen und Kolben und Pleuelstangen vor sich hin lärmten, waren die neuen Maschinen plötzlich nicht nur leiser sondern auch unheimlicher: Ohne auf einen Knopf zu drücken, wurde eine Vielzahl von Arbeits- und Entscheidungsprozessen global möglich, die ohne direkten menschlichen Eingriff scheinbar autonom funktionierten. Die Maschinen sprachen miteinander in einer Sprache, die der durchschnittliche Mensch nicht verstand und um so vieles schneller ablief als die immer mehrdeutige menschliche Kommunikation. Erdbebenfrühwarnsysteme und die Überwachung des Luftverkehrs werden mittlerweile nicht mehr Menschen überlassen, einfach weil sie zu langsam reagieren. Die Computer moderner Flugzeuge berechnen einen möglichen Kollisionskurs in Bruchteilen von Sekunden und kommunizieren mit dem Computer des anderen Flugzeugs, um einen Ausweichkurs einzuleiten. So schnell kann kein Pilot reagieren.2 War die „Computerisierung“ in der Arbeitswelt ein erster Schritt, folgte ungefähr ein Jahrzehnt danach der nächste Schritt: das Smartphone als universelles und extrem leistungsfähiges Kommunikationsgerät verursachte ein Eindringen des Digitalen in die Privatsphäre und den Alltag, wie es vermutlich auch seinen Erfindern nicht vorgeschwebt hatte. Ohne Smartphone geht in Europa fast kein Mensch mehr aus dem Haus – ob er es zur Navigation, zum Chatten oder zum Fahrkartenkauf benutzt: der Computer in der Hand verbindet sich über ein unsichtbares Telefonnetz mit allen „Computerfarmen“ dieser Welt und klinkt sich ein in einen gigantischen Datenstrom, der gleichzeitig von allen Geräten angezapft und auch gefüllt werden kann. „Das Internet vergisst nichts“ Aber nicht nur Filme und mehr oder weniger bedeutsame Tweets liegen weltweit auf den angeschlossenen Rechnern verstreut, auch unsere Zugriffsmöglichkeiten auf diese Information haben sich exponentiell vervielfacht: Aktueller Pegelstand des Colorado? Durchschnittseinkommen in Malaysia? Ausdehnung des Thwaites-Gletschers in der Antarktis? Was äußert ein Hinterbänkler in Australien zum Klima? Kein Problem! Quelle: Familienfoto, ca. 1960 Die Generationenfrage Diese Informationsmenge macht Menschen Angst, die damit nicht groß geworden sind, sie ist ihnen unheimlich. Wer als „Generation Z“ groß geworden ist, kann sich kaum vorstellen, dass es früher recht umständlich war, die Abfahrtszeiten des Nahverkehrszugs herauszufinden oder die Öffnungszeiten einer Pizzeria in der Nähe und ihr Angebot. Wer als „Generation Y“ (die so genannten „Millennials“) groß wurde und dementsprechend den Computer als Alltagsgegenstand kennengelernt hat und mit ihm aufgewachsen ist, kann sich kaum vorstellen, dass man seine Briefe oder Schriftsachen ohne Tastatur schreiben kann – außer zu nostalgischen Zwecken. Oder dass man Bilder tatsächlich ins Labor brachte, um sie dort aus Negativen entwickeln zu lassen – nur um dann festzustellen, dass alle Bilder der Schulabschlussfeier falsch belichtet sind… Ganz besonders hart aber trifft es die Generation der „Boomer“, also der bis 1965 Geborenen: sie sind mit der Automatisierung groß geworden, haben sich daran gewöhnt, dass laute und dreckige Maschinen ihnen die laute und dreckige Arbeit abnehmen, dass der „Roboter“ ein seelenloses Gewerk aus mechanischen Teilen ist und ihnen selbst ein längeres Leben ohne große körperliche Schäden ermöglicht. Maschinen als Knechte sollen ihr Leben vereinfachen, nicht erschweren. Wer in dieser Generation sowohl die Digitalisierung als auch den Quantensprung in der Kommunikationstechnologie verpasst hat, läuft jetzt so hilflos herum wie der oft zitierte Mensch mit einem Hammer, für den jedes Problem ein Nagel ist. Wir sollten deshalb nicht nur ein gewisses Mitleid mit den älteren Mitmenschen dieses vordigitalen Zeitalters haben, sondern sie auch häufiger darauf hinweisen, was schon die alten Lateiner wussten: Tempus fugit. Quelle: https://pixabay.com/photos/skating-winter-ice-snow-lake-2301999/ Die Vertrauensfrage Bisher drehte es sich um drei Aspekte entlang einer Zeitachse der Generationen, die vor und nach 1965 geboren wurden. Das ist naturgemäß eine sehr krude Trennung, die gewissermaßen senkrecht zur Zeitachse in ein „Vorher“ und „Nachher“ trennt. Es gibt jedoch auch eine horizontale Dimension unabhängig von Generationen, die auf die Gretchenfrage der Demokratie verweist: „Wie viel Vertrauen hast Du in die Gestaltungsfähigkeit deiner Regierung?“ Diese Frage stellt sich in vor allem in föderalistisch geprägten Demokratien und Staatsgebilden wie Deutschland, der EU und den USA. Das Vertrauen erstreckt sich dabei vor allem auf Lebensbereiche außerhalb des persönlichen Gestaltungsbereichs, also beispielsweise auf Altersvorsorge, Gesundheitswesen und die Festlegung und Durchsetzung gesellschaftlicher Normen und Gesetze („öffentliche Ordnung“). Sie umfasst eine Gewaltenteilung ebenso wie eine staatliche Fürsorgepflicht bei der Infrastruktur – also alles, wozu sie oder der Einzelne nur in Form von Steuern und Abgaben beitragen kann, aber nicht von ihr/ihm selbst übernommen wird. In diesen Bereichen ist das Vertrauen in das Funktionieren des Staates gefragt, das Vertrauen darin, das die gewählten Personen die Tätigkeiten und Entscheidungen im Sinne der Bürgerinnen und Bürger des Landes erfüllen. Sobald der Eindruck entsteht, dass die Vertrauenspersonen dieses missbrauchen und sich vor der Verantwortung drücken oder sie auf nicht gewählte Institutionen wie Unternehmen abwälzen, schwindet das Vertrauen. Diese Erfahrung mussten zahlreiche Bürger der westlichen Demokratien in dem vergangenen 40 Jahren machen: angefangen von der Privatisierung („der Markt kann das besser als der Staat“) anhand betriebswirtschaftlicher Parameter bis hin zur Verschieberitis bei Umwelt- und Klimaschutz haben gewählte Volksvertretungen zunehmend die Verantwortung an nicht-demokratische Institutionen übergeben. Ein Versicherungskonzern hat per Definition nicht das Wohl seiner Versicherten, sondern der Anteilseigner im Blick. Einem Energieversorger geht es nicht um Klimaschutz, sondern um Profit. So wie es ein Unding ist, einem privatwirtschaftlichen Unternehmen das Gemeinwohl abzuverlangen, ist es umgekehrt ein Unding, eine gemeinwohlorientierten Institution wie das Gesundheitswesen oder das Bildungswesen auf Profit auszurichten. Es ist beides schlicht nicht ihr Job, dafür sind sie nicht da. Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2020 – 01/deutschland-vertrauen-politik-staat-umfrage Allerdings hat eine nicht unerhebliche Anzahl Bürger mittlerweile das unbestimmte Gefühl, dass das Vertrauen, das sie den staatlichen Einrichtungen entgegen gebracht haben, zunehmend für genau diese Umkehrung benutzt wird. Das ist vor allem für Demokratien sehr ungut, denn sie sind für ihr Funktionieren auf genau dieses Vertrauen angewiesen. Zudem zeigt die Edelman-Umfrage auch, dass es fast nirgends auf der Welt einen größeren Unterschied im Vertrauen in den Staat gibt als in Deutschland: Die sogenannte Elite, also gut ausgebildete Menschen mit hohem Einkommen, hat in Deutschland ein um fast 50 Prozent höheres Vertrauen in den Staat und seine Institutionen als der Durchschnitt der gesamten Bevölkerung. Oder, anders ausgedrückt: Der Staat mag für die Elite funktionieren. Aber aus Sicht der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger funktioniert er eben nicht ausreichend für sie. https://www.zeit.de/wirtschaft/2020 – 01/deutschland-vertrauen-politik-staat-umfrage Ohne Vertrauen schwindet die Bereitschaft zu gesellschaftlichen Kompromissen und der Solidarität, gemeinsam Ziele zu erreichen. Gerade bei gesamtgesellschaftlichen Aufgaben oder gar supranationalen Herausforderungen wie dem Klimaschutz ist diese Bereitschaft aber Voraussetzung für den Erfolg. In Demokratien führt dies meist zu einem Ergebnis: „Politkverdrossenheit“3 So sind nach Bertelsmann-Studien nur gut die Hälfte der Bürger dieses Landes mit der Demokratie in Deutschland zufrieden, selbst wenn sie prinzipiell zu Dreiviertel die Demokratie für eine gute Staatsform halten. Katastrophal allerdings ist das Vertrauen in die Institutionen: nur ein gutes Drittel der Bevölkerung vertraut ihnen.4 Fazit Wenn aber die wachsende Gruppe der „Boomer“ mit den Veränderungen in der Gesellschaft große Probleme hat aufgrund ihrer Biografie und Sozialisation, und nur die Hälfte des Staates davon ausgeht, dass dieser Staat für sie „funktioniert“, glimmt hier eine Lunte, an deren Ende beträchtliche Menge sozialen Sprengstoffs wartet. Mit Vereinfachung der Problematik kommen wir hier auf jeden Fall nicht mehr weit … Die darüber hinaus den „Vorteil“ hatten, weder Urlaub noch Pausen zu beanspruchen oder gar Lohnzuwächse. ↩Es besteht natürlich immer noch die Möglichkeit des menschlichen Eingriffs, sie ist aber nicht mehr der „Default State“. ↩In Wirklichkeit eine Verdrossenheit mit den Repräsentanten des politischen Systems, die aber von ebendiesen gerne umgedeutet wird. ↩siehe auch https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Gesellschaftlicher_Zusammenhalt/ST-LW_Studie_Schwindendes_Vertrauen_in_Politik_und_Parteien_2019.pdf ↩Teilen mit:MastodonWhatsAppE‑MailMehrDruckenLinkedInTelegramPinterestGefällt mir:Gefällt mir Wird geladen … thinkware GeschichteGesellschaft
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