Tiefe Zeit 17.03.201829.10.2020 Die Bezeichnung „tiefe Zeit“ ist eigentlich ein sprachlich sehr ungeschickter Begriff, der auch dadurch nicht besser wird, wenn man das englische Original „deep time“ benutzt. Dennoch erlebt dieser philosophische Begriff in der populärwissenschaftlichen Debatte vor allem in der angloamerikanischen Welt eine Renaissance. – Und er hat etwas Tröstliches. Warum? Das Konzept an sich ist ja nicht neu: als es vor etwas über 200 Jahren in Schottland von James Hutton als geologischer Zeitbegriff vorgestellt wurde, ließ sich damit recht anschaulich der gigantische Unterschied zwischen erdgeschichtlichen und menschheitsgeschichtlichen Zeitabläufen beschreiben. Wir erinnern uns: Die Zeit vor 200 Jahren, also etwa acht Generationen, war in der westlichen Zivilisation eine Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche, von denen die Französische Revolution nur ein Ereignis war. Vor 200 Jahren begann auch das Experiment der amerikanischen Unabhängigkeit (eng verknüpft mit den philosophischen Vorstellungen der französischen und deutschen Aufklärung), der Verfassung als Grundlage der Staatenbildung – statt eines „Gottesgnadentums“ – und die Industrialisierung in Großbritannien. Es war der Beginn des Kolonialismus und der wirtschaftlich-militärischen Expansion des „Westens“. Und es war der Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Welt selbst. Kurz: Das Wissen um das Wesen der Welt war nicht mehr beschränkt auf eine kleine Gruppe in Politik und Religion – die Teilhabe an der Vermehrung des Wissens stand zunehmend mehr Menschen im „Westen“ zur Verfügung.1 Aber zurück zur „tiefen Zeit“. Im Gegensatz zu den auch aus damaliger Sicht umwälzenden Veränderungen innerhalb so kurzer Zeit sind erdgeschichtliche Zeitläufe unvorstellbar riesig. Da geht es nicht um 200 Jahre (Aufklärung) oder 2.000 Jahre (Christentum), sondern schnell um 2.000.000 Jahre (Steinzeit) oder gar 200.000.000 Jahre (Erdmittelalter). Das ist zwar auf das Universum gerechnet immer noch ein Klacks, aber schon so groß, dass wir es uns beim besten Willen nicht vorstellen können. Consider the Earth’s history as the old measure of the English yard, the distance from the King’s nose to the tip of his outstretched hand. One stroke of a nail file on his middle finger erases human history.[12] (wikipedia) Das Unverständnis – und auch die in manchen gesellschaftlichen Gruppen in Europa – gepflegte Ignoranz gegenüber solchen Dimensionen und der eigenen doch recht kurzfristigen Entwicklung erstreckt sich jedoch nicht nur auf andere Kulturen und Gesellschaften2, sie erstreckt sich auch auf die Geschichte unserer eigenen Vorfahren. Denn es ist ja beileibe nicht so, dass in Europa grunzende Neanderthaler die Felsen bevölkerten wie in Afrika die Paviane, bis sie dann von speereschleudernden Universalgelehrten namens „Homo sapiens“ unterdrückt, versklavt oder „ethnisch gesäubert“ wurden. Und dass diese Homo sapiens dann nun, wo sie schon dabei waren, als blauäugige blonde Hünen nebenbei Höhlen bemalten, den Verbrennungsmotor erfanden und dann Hakenkreuze an Hauswände schmierend in andere Länder einfielen. Als ob Geschichte aus einem einzigen Ereignis bestünde, das dann die weitere Menschheitsgeschichte prägte. Geschichte ist eine Vielzahl kleiner und größerer Ereignisse über einen unvorstellbar langen Zeitraum, bei dem Ereignisse auf anderen aufbauen und neue Ereignisse hervorrufen.3 So hat beispielsweise die Entdeckung von Höhlenmalerei auf der iberischen Halbinsel aus der Zeit vor über 60.000 Jahren zu einem Umdenken unserer eigenen Geschichte geführt: Nicht der Homo sapiens als „wissender Mensch“, sondern der Homo neanderthalensis war vermutlich der Urheber – denn unsere Vorfahren saßen zu dieser Zeit noch um ihre Lagerfeuer am Tanganjikasee. Diesen haben sie aufgrund größerer klimatischer Ereignisse und dem Verlust der Nahrungsgrundlage verlassen, um in den weitaus kühleren und gefährlicheren Norden zu ziehen, mit dessen Klima und Mikroben die dortigen Neanderthaler weitaus besser zurechtkamen. Man hat sich arrangieren müssen – und auch voneinander gelernt. Auch die Menschheitsgeschichte ist keine Fußballweltmeisterschaft, bei der am Ende nur einer gewinnt. Ist es nicht beruhigend zu wissen, dass unsere Vorfahren vor einem unvorstellbar langen Zeitraum dazu in der Lage waren, sich anzupassen und sogar daraus zu lernen und sich weiterzuentwickeln? Es nimmt der ständigen Veränderung und den aktuellen Verwirbelungen wie Digitalisierung und Migration sehr viel von ihrer Bedrohlichkeit. Und es eignet sich auch zum Nachdenken, ob bestimmte Ereignisse wirklich menschheitsgeschichtlich so bedeutend sind, wie sie von ihren Protagonisten gerne propagiert werden. Es gibt nämlich geschichtliche Abläufe, die so langsam und schleichend sind – und aus vielen kleinen Ereignissen bestehen – dass sie für uns arg begrenzte Individuen jenseits der Wahrnehmungsschwelle liegen. Erst bei der Betrachtung der „tiefen Zeit“ lassen sich die relevanten Geschichten von den „Petitessen und Imponderabilien“ unterscheiden. Bild oben: das Rift Valley (der afrikanische Graben) /Quelle: Views of the Earth Man übersieht gerne, dass unser eurozentristisches Denken als Machtfaktor noch gar nicht so alt ist. Nicht-Europäer als ungebildete Wilde zu bezeichnen, als „Halbaffen“, als „Untermenschen“, die es als „Menschenmaterial“ zu versklaven und auszubeuten galt, hat auch in der damaligen Überheblichkeit seine Wurzeln. ↩Ich nenne hier nur die bestenfalls dümmliche „Kopftuchdebatte“ um die Verpflichtung zur weiblichen Kopfbedeckung in manchen arabischen Staaten und ihr Verbot hierzulande in öffentlichen Einrichtungen. So als ob Bäuerinnen in Niederbayern und der Oberpfalz seit Jahrhunderten nicht auch Kopftuch trügen – der Besuch einer Pinakothek kann hier wirklich bilden… ↩Der Homo sapiens kam übrigens über den nahen Osten aus dem östlichen Afrika, von wo aus der dann den indischen Subkontinent, Europa, Asien und schließlich vor etwa 12.000 Jahren auch Amerika (das Ganze, nicht nur den Nordteil) bevölkerte. Wer sich also über „Flüchtlingshorden“ aus Afrika beklagt, hat auch im Geschichtsunterricht geschlafen… ↩Teilen mit:MastodonWhatsAppE‑MailMehrDruckenLinkedInTelegramPinterestGefällt mir:Gefällt mir Wird geladen … thinkware GeschichteGesellschaft
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