Buchbesprechung: „Die große Transformation“ 22.01.202223.01.2022 Bei Titeln mit dem Adjektiv „groß“ sollte man immer etwas skeptisch sein, denn groß ist oft nur der Anspruch, aber nicht der Inhalt. In diesem Fall allerdings ist der Titel durchaus gerechtfertigt, denn es geht um unsere Zivilisation. Um es noch breitspuriger zu formulieren: es geht darum, unsere Zivilisation vorzubereiten auf die Veränderungen, die in den kommenden Jahrzehnten eintreten werden. Ein „weiter so“ gibt es nicht mehr. Gerade im Hinblick auf globale Probleme wie Artenschwund und Klimakrise haben wir in dem wohlhabenden Ländern des Globus sehr lange auf eine Forsetzung unserer Erfolgsgeschichte gesetzt: mehr Industrie, mehr Geld, mehr Wirtschaft und mehr „Wohlstand“. Gerade mit dem Verweis auf Letzteres haben wir in unserem Schneckenhaus viele Folgen dieser Lebensweise und Haltung übersehen: Ob Vernichtung lokaler Märkte im globalen Süden mit hochsubvenionierten Überschüssen aus dem Norden oder zunehmende soziale Ungerechtigkeiten in unseren Gesellschaften, wo die Schere zwischen Arm und Reich in den letzten Jahrzehnten bislang unvorstellbare Ausmaße angenommen hat – das Gewebe der aktuellen sozialen Strukturen, die eine funktionierende Gesellschaft und die globale Zivilisation zusammenhalten soll, ist bis zum Zerreißen gespannt. Und das spüren wir alle, die täglich Nachrichten sehen, hören oder lesen, die sich mit Kollegen und Freunden unterhalten: Viele fühlen sich überfordert, angespannt und flüchten sich in Ignoranz oder träumen von einer glorifizierten Vergangenheit, die es so nie gab. „Das geht nicht gut, was hier passiert.“ Das Eingeständnis, dass der Status Quo weder nachhaltig noch sinnvoll oder gar für alle Menschen erstrebenswert sei, kriecht durch unseren Alltag und macht uns missmutig oder gar egozentrisch.1 Gleichzeitig fehlt uns aber eine Erzählung, die Idee oder gar ein Plan, wie wir persönlich und als Gesellschaft oder gar als Zivilisation aus dieser Lage wieder herauskommen sollen. Und wir Menschen sind auf Erzählungen („Narrative“) angewiesen: Unser Alltag, unser gesamtes soziales Wesen beruht auf Erzählungen von gemeinsamen Zielen, Werten und Idealen. Nur scheinen diese nicht mehr zusammenzupassen. Dabei gibt es seit vielen Jahren immer wieder große und kleine Erzählungen aus vielen Bereichen unseres Lebens, die für sich genommen durchaus Sinn ergeben – ob Verkehrskonzepte oder Energieerzeugung, Ernährungssicherheit und ‑qualität, Gleichberechtigung und Teilhabe, Bildung und Anerkennung. Diese Erzählungen sind aber oft schwer zu finden oder widersprechen sich auch teilweise, so dass sie im Alltag nur punktuell aufschimmern oder gleich auf Ablehnung stoßen, weil sie gerade nicht passen. Uwe Schneidewind2 hat in einem recht umfangreichen Buch (gedruckt immerhin über 500 Seiten) versucht, alle diese Konzepte und Erzählungen zu sortieren und zu strukturieren. Auch wenn es flüssig und sehr anschaulich geschrieben ist: ein Buch mit Lebensweisheiten à la „100 Tipps wie Sie Ihre Wohnung auf Vordermann bringen“ darf man nicht erwarten. Im Gegenteil: Alleine die Anzahl der Kapitel (es sind 23) und die Literaturliste ist für Unbedarfte fast eine Zumutung. So wie man keine schnellen Antworten auf spezielle Fragen des Lebens erwarten darf, muss man sich als Leser auf eine heftige Einstiegshürde einlassen: die Themen sind ein Parforceritt durch fast alle Erkenntnisse der Wirtschaftslehre, der Sozialwissenschaften und der Nachhaltigkeitsforschung der letzten 30 Jahre. Dieses Buch ist nichts für Einsteiger, sondern eher für Menschen, denen die herkömmlichen Gehversuche der Klimakrisenliteratur und Gesellschaftskritik nicht tief genug gehen. So geht es im Buch auch nicht darum, welche Maßnahmen notwendig oder überflüssig sind, um beispielsweise eine oder gleich beide der eingangs erwähnten Krisen der kommenden Jahrzehnte (Biodiversität und Klima) mit einfachen politischen Mitteln zu bekämpfen oder gar zu beenden. Der Titel „Die Große Transformation“ nimmt sich gleich des Ganzen an: nicht Herumdoktern an Symptomen, sondern die Frage, wie sich eine Zivilisation so umgestalten lässt, dass sie nicht durch ihre selbsterzeugten Krisen an sich selbst scheitert. So finden sich auch keine Ratschläge auf bestimmte parteipolitische Maßnahmen – was ja auch aufgrund des globalen Rahmens des Buchs unmöglich einzulösen ist, sondern kulturell-gesellschaftliche Ansätze, das Problem bei den Hörnern zu packen: Wir haben keine Klimakrise oder eine Biodiversitätskrise, keine Glaubwürdigkeits- oder Wirtschaftskrise, wir haben eine Zivilisationskrise. So wie dem Klima unsere Probleme egal ist, stehen nicht eine naturwissenschaftlich gut begründbare Temperaturschwelle und ein Kohlenstoffausstoßbudget zur Disposition, sondern die Errungenschaften der menschliche Zivilisation der letzten 10.000 Jahre – gute wie schlechte. Das ist eine große Hausnummer. Schneidewind spricht daher auch von „Zukunftskunst“, die er folgendermaßen definiert: Zukunftskunst bezeichnet die Fähigkeit von Politik, Zivilgesellschaft, Unternehmen, Wissenschaft und allen Pionieren des Wandels, grundlegende Transformationsprozesse von der kulturellen Vision der Nachhaltigkeit her zu denken und von dort institutionelle, ökonomische und technologische Perspektiven zu entwickeln. Getragen ist ein solcher Ansatz von der Zuversicht, dass Zukunft mitgestaltbar und nicht lediglich das Ergebnis technologischer und ökonomischer Dynamiken ist.(Die Große Transformation, Teil A: Ansatz) Eines der größten Hindernisse, von denen beispielsweise auch Michael E. Mann spricht3, sind die enormen Beharrungskräfte der aktuellen Zivilisationsprozesse, die einerseits in den letzten 200 Jahren die Aufklärung und Industrialisierung, Globalisierung und ein bislang für unmöglich gehaltenes Bevölkerungswachstum ermöglicht haben, andererseits aber ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören, indem wir unseren Planeten weit über das regenerative Maß hinaus ausbeuten. https://stockholmresilience.org/research/planetary-boundaries/the-nine-planetary-boundaries.html, siehe auch Johan Rockström et al.: https://steadystate.org/wp-content/uploads/2009/12/Rockstrom_Nature_Boundaries.pdf Der Begriff der „Zukunftskunst“ ist allerdings nicht zufällig gewählt, denn gerade in saturierten Gesellschaften des globalen Nordens hat sich neben einem Unbehagen über eine fehlende Nachhaltigkeit auch eine Wurschtigkeit breitgemacht, die Ansicht, dass es „uns“ hierzulande als Letzte treffen wird und in der Zwischenzeit irgendeine Lösung entwickelt wird, mit der wir uns an unseren eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen können. Dass diese Ansicht natürlich unsinnig ist, wie wir eigentlich täglich erfahren, wenn winzige Viren die Produktion von Computerchips in China lahmlegen und es zu globalen Versorgungsengpässen kommt, führt leider nicht zur Erkenntnis, dass planetare Grenzen selbstredend für alle Menschen gelten. Umgekehrt führt eine ununterbrochene Beschallung mit Hiobsbotschaften über die Gletscherschmelze und den tauenden Permafrost oder brennenden Urwald oft nur dazu, dass wir uns angesichts der Größe der Probleme als hilflos und unfähig empfinden – selbst wenn wir diese Probleme nicht ignorieren. Zu lange waren Teile der Nachhaltigkeits-Community »Transformationsanalphabeten« und glaubten dran, dass die Welt sich schon ändern würde, wenn wir die Größe der ökologischen und Entwicklungsherausforderungen nur plastisch genug beschreiben, technologische Lösungen und dazu passende Policy-Empfehlungen vorlegen. … Ein großer Trugschluss der Umweltdebatte in den letzten 30 Jahren war die Hoffnung, dass sich eine ökologische Wende im Wesentlichen mit einem technologischen Innovationsprogramm in der bestehenden Wirtschaftsordnung umsetzen lässt.(Die Große Transformation, Teil A: Ansatz und Kapitel 5: Doppelte Entkopplung – Jenseits der »Grünen Ökonomie«) Diese Fehlannahme4 hat zu einer gefährlichen Schieflage geführt: sie hat die Unzufriedenheit genährt und – befeuert durch populistische Trittbrettfahrer – den Eindruck eines Kontrollverlusts vermittelt, der „mit den ökonomischen Nebenfolgen der aktuellen Wirtschaftsordnung freiheitliche Demokratien immer mehr gefährdet“. Weitermachen wie bisher ist dadurch ebenso ausgeschlossen wie eine diktatorische Vorgabe durch Regierungen.5 Diesem Selbstentmachtungsdilemma freiheitlicher Gesellschaften versucht Schneidewind entgegenzutreten mit einer Betrachtung der „Möglichkeitsräume“, also dem Nachspüren von Konzepten und Initiativen in allen Sektoren des öffentlichen Lebens, die eine positive Einstellung gegenüber der Gestaltbarkeit der Zukunft eint. So komplex die Probleme sind, so können sie auch nicht mit unterkomplexen Lösungsansätzen beseitigt werden. Letztlich sind die Ideale einer demokratischen Gesellschaft genau die, die auch das Konzept einer Nachhaltigen Entwickling tragen … Denn auch eine Nachhaltige Entwicklung ist von der Idee der gleichen Rechte aller Menschen auf persönliche Entfaltung getragen und erweitert dieses Ideal auf alle auf diesem Planeten lebenden Menschen sowie auf die erst in Zukunft hier lebenden Generationen.“(Die Große Transformation, Kapitel 19: Scheitert die Große Transformation an politischem Versagen?, U. Schneidewind) Er wäre kein langjähriger Präsident eines der führenden „Nachhaltigkeitsthinktanks“, wenn Uwe Schneidewind nicht auch über das Buch verteilt zu allen energiepolitischen, gesellschaftlichen, bildungspolitischen und wirtschaftspolitischen Themen („Suffizienzpolitik“) Hinweise und Handlungsoptionen anbieten würde.6 Quelle: Die Große Transformation (Screenshot) Den Lesern, die sich nicht zu den Entscheidern in Wirtschaft und Politik zählen, hat der Autor einen eigenen Abschnitt gewidmet, in dem sich auch Menschen wiederfinden können, die angesichts der Herausforderungen, eine Zivilisation zur Nachhaltigkeit umzugestalten, jegliche Veränderung als Zumutung empfinden.7 Damit ist eine Zukunft gemeint, die uns die gesellschaftlichen Errungenschaften der Moderne (Freiheit, persönliche Entfaltung, Frieden, Gerechtigkeit) erhält, ohne auf immer weiteres materielles Wachstum angewiesen zu sein. … In unseren Köpfen sind Weltsichten, Visionen und Paradigmen verankert. Hier sind wir die Kinder unserer Zeit. Aber in unseren Köpfen können wir sie auch verändern und zur Grundlage einer anderen Gestaltung der Welt machen.Kapitel 22: Pioniere des Wandels als Motoren der Großen Transformation Fazit Auch wenn beim Lesen manchmal vor Bezügen und Querverweisen, Zitaten und Grafiken die Augen tränen – dieses Buch kann und soll Mut machen. Nicht nur denen, die Verantwortung für andere tragen (tun wir das nicht alle?), sondern auch denen, die angesichts der Herausforderungen und der Langsamkeit von gesellschaftlichen Prozessen der Mut zum Weitermachen verlässt. Wir sind nämlich alle „Pioniere des Wandels“, „die sich entlang der drei Dimensionen von Wissen, Haltung und Fähigkeiten orientieren“. Erst im Zusammenspiel von Wissen, Haltung und Fähigkeit bildet sich die individuelle Zukunftskunst heraus, d.h. ein ganz persönlicher »Möglichkeitssinn« […], ein reflektiertes Gefühl der Selbstwirksamkeit, um zu Veränderungsprozessen im Sinne einer großen Transformation beizutragen.Kapitel 22: Pioniere des Wandels als Motoren der Großen Transformation „Nach mir die Sintflut!“ ↩Uwe Schneidewind (* 8. Juli 1966 in Porz bei Köln) ist ein deutscher Politiker (Grüne) und Wirtschaftswissenschaftler. Seit dem 1. November 2020 ist er Oberbürgermeister der bergischen Großstadt Wuppertal. Bis 2020 war Schneidewind, der zu den 100 einflussreichsten Ökonomen Deutschlands gezählt wird, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie in Wuppertal. (https://de.wikipedia.org/wiki/Uwe_Schneidewind) ↩„The New Climate War“, 2. Auflage 2021, 440 Seiten, Verlag Solare Zukunft ↩Die Fehlannahme, dass sich ein „grünes“ Wachstum alleine durch technologische Effizienzsteigerung und weniger Rohstoffbedarf (ökologischer Fußabdruck) einstellt, durchzieht unser Wirtschaftssysteme seit Jahrzehnten. Mittlerweile setzt sich die Erkenntnis durch, dass diese Art der Wohlstandsmehrung zu so genannten „Rebound-Effekten“ führt: mehr Effizienz führt zu höherem Konsum. Dies lässt sich nur vermeiden, wenn wir Wohlstand vom Konsum entkoppeln. (Schneidewind, Kapitel 5) ↩Auch wenn manchen die Option einer autoritären Vorgabe „von oben“ interessant erscheint, beinhaltet sie doch von Beginn an das Scheitern, denn keine noch so wohlmeinende Vorgabe („Ökodiktatur“) kann Nachhaltigkeit effizient umsetzen. Sie wäre auf Zwang angewiesen, der ineffizient ist, weil ressourcenintensiv – und damit nicht nachhaltig. Dazu haben gerade Deutsche reichlich Anschauungsmaterial aus der Geschichte… ↩Zu Suffizienzpolitik auch Michael Kopatz, Ökoroutine ↩Oder auch Populisten nachlaufen, die ihre eigene Denk- und Handlungsfaulheit hinter der Ausrede verstecken, etwas sei nicht „zumutbar“. Denn am unzumutbarsten ist das Beharren auf einen Zustand, der nicht mehr haltbar ist. ↩Teilen mit:MastodonWhatsAppE‑MailMehrDruckenLinkedInTelegramPinterestGefällt mir:Gefällt mir Wird geladen … Gesellschaft thinkware DemokratieKlimaKulturPolitikUmweltschutzWirtschaftZivilisationZukunft
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