In Emotion We Trust 01.12.201819.08.2021 Vor etwa 200 Jahren ist etwas Unglaubliches passiert: die Aufklärung. Sie brachte nicht nur ein mittelalterliches Weltbild über den Menschen und seinen Daseinszweck zu Fall, sie beraubte ihn auch eines wesentlichen Bestandteils seiner Lebens: seine Unmündigkeit. Das hatte Folgen – gute wie schlechte. Der Homo Sapiens ist nicht nur ein denkendes Wesen, das vorausplanen kann, er benötigt auch eine ständige Vergewisserung seines Daseinszwecks. Er sucht Sinn. Verbunden mit seiner Fähigkeit zur Kommunikation erzeugt er seine eigenen „Narrative“: Geschichten und Vorstellungen darüber, wie die Realität sein könnte und sein müsste warum sie so ist, wie er sie wahrnimmt. Für alles, was wir Menschen nicht verstehen (und das ist sehr viel), erfinden wir Geschichten und Zusammenhänge, Erklärungen und Rechtfertigungen. Wir brauchen das, um uns in der Welt zurecht zu finden. „Losing my Religion“ „Ob du isst, ob du trinkst, was immer du tust – tue alles zur Ehre Gottes!“ (Refektorium des Klosters Pedralbes, Barcelona) Diese Funktion hat lange Zeit die Religion und die daran angelehnten Verhaltensvorschriften übernommen (nicht nur die christliche), denn es ist die Aufgabe von Religionen, dort Gewissheiten zu definieren, wo unsere Kenntnis und unser Verständnis der Welt endet. Nur in Religionen kann die Welt auf dem Rücken einer Schildkröte entstanden sein, können Wesen über Wasser laufen oder Mauern alleine durch den Lärm von Trompeten einstürzen. Auch wenn jeder weiß, dass dies in der Realität nicht funktioniert, halten wir daran fest. Das ist Glaube. Der Glaube und seine Fest- und Niederlegungen („religio“) geben Halt, spenden Trost, selbst wenn ein anderer Teil unseres Verstandes dem widerspricht. Wir wollen glauben, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, dass es Gerechtigkeit gibt – selbst wenn wir täglich erfahren, dass das nicht möglich ist. Wir können gar nicht anders. Die Einbettung der menschlichen Existenz in ein festes Korsett aus Glaubensregeln, Traditionen und nicht hinterfragten Vorstellungen mag auch in Europa lange tröstlich gewesen sein, sie hat aber auch jenen anderen Teil des Menschen gelähmt, der ihn auszeichnet: seine Neugier und sein Drang, sich nie mit Erklärungen zufrieden zu geben. Dazu reicht uns die Religion als umfassendes Narrativ schon längst nicht mehr. Fast zeitgleich mit der Aufklärung und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung stürzten die Napoleonischen Feldzüge in Europa die Reste der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung: die „Verweltlichung“ (Säkularisation) beendete die unheilige Allianz aus Kirche und Staat, sie nahm der weltlichen Macht die göttliche, jenseitige Legitimation. Ab der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts konnte sich kein Monarch auf seine göttliche Bestimmung berufen – er brauchte eine Verfassung, die ihm menschengemachte Regeln auferlegte. Aus dem absoluten Herrscher, der – vom Papst als Stellvertreter Gottes auf Erden gesalbt und gekrönt – dem göttlichen Willen gehorchte und seine Untertanen beherrschte, wurde in Europa eine Monstranz, ein „Grüßaugust“, abhängig von den Gesetzen und Regeln seines Landes. Für die Untertanen war damit aber die Kette in die jenseitige Welt gerissen, denn die Aufklärung verlangte von ihnen Selbstverantwortung, Streben nach Erkenntnis und Gewissheiten jenseits der religiösen Dogmen. Die Aufklärung ist eine europäische Erfindung, die nicht nur alte Monarchien stürzte (auch wenn es noch eine weitere Dekade benötigte, diese auch de facto zu beseitigen), sie stellte alle Menschen als gleich vernunftbegabte Wesen auf die gleiche Stufe und beförderte durch ihr Streben nach Erkenntnis (und nicht Frömmigkeit für ein Leben nach dem Tod) die Wissenschaft und die Industrialisierung. Denn nur was verifizierbar, messbar, rational erfassbar, quantifizier- und standardisierbar ist, kann auch industrialisierbar sein. Nur was bereit ist, sich immer wieder zu hinterfragen und eigenes Wissen als Ausgangs- und nicht als Endpunkt zu betrachten, führt zur Weiterentwicklung.1 Mit der Aufklärung haben wir Klöster abgeschafft, Schulen gebaut, einheitliche Messsysteme eingeführt und die Verwaltung verweltlicht. Dazu brauchte es aber Menschen, die einen Gesetzeskodex nicht nur umsetzen, sondern auch lesen konnten, statt nur besonders intensiv zu glauben; es brauchte Menschen, die in der Lage waren, einen Dreisatz zu berechnen und Rechnungen zu schreiben. Kurz: ohne Schulen und Alphabetisierung wären wir immer noch arm und ständig vom Hungertod bedroht, hätten kein medizinisches Wissen und auch keine Wasserleitungen mit sauberem Trinkwasser. Dieser Aufschwung der Vernunft hatte seinen Preis, denn für eine tiefempfundene Gläubigkeit im Alltag gibt es in unserer industrialisierten Zivilisation keinen Platz mehr. Das Zitieren von Bibeltexten auf Latein ist keine Qualifikation mehr und selbst eine fundamentalistische Religiosität nützt wenig im Straßenverkehr. Wir steigen ohne Skrupel auch auf heilige Berge – und wenn wir dabei verunglücken, dann lag es nicht an der Rache der Götter. Für Menschen aus dem (gedanklichen) „Mittelalter“ ist die europäische Aufklärung eine ständige Verhöhnung aller Glaubenswelten und Religionen, aller Vorstellungen über eine Verflechtung des Jenseits mit dem Diesseits. Für uns Aufgeklärte gibt es kein Jenseits oder Gottesgnadentum, für uns gibt nur Wissen und Vernunft. Unbekanntes stellt höchstens eine Aufforderung dar, nachzudenken, zu forschen und sich nicht mit einer Erklärung zufrieden zu geben. Auf diese Aufklärung haben wir unsere Gegenwart und unsere Zivilisation in Europa aufgebaut – aber eben nur und vor allem in Europa. Denn die Aufklärung ist unsere Erfindung, sie hat uns Macht gegeben über alle Lebewesen, über Tiere und Menschen, selbst wenn diese keine Europäer sind. Mit ihrer Hilfe und den damit einhergehenden technologischen Errungenschaften – vom Kraftfahrzeug bis zur Maschinenpistole – haben wir den Globus kolonialisiert und unseren Vorstellungen unterworfen. Wir Europäer dominieren seit 200 Jahren mit unserer Art der Zivilisation andere Kulturen und ihre Menschen. Das ist nicht unbedingt negativ: wir sehen weiter ins All hinaus als es jemals möglich war, wir haben den Hunger im Griff – sofern wir wollen – und können in Sekundenbruchteilen quer über den Erdball kommunizieren. Innerhalb weniger Stunden können wir überall auf dem Globus Opfern von Flutkatastrophen oder Erdbeben helfen, innerhalb von Tagen dämmen wir Epidemien ein und evakuieren riesige Landstriche. Was noch bis vor 200 Jahren ein „Gottesurteil“ war, ist heute nur noch eine logistische Herausforderung (siehe auch Acht Generationen). Die klaffende Lücke Die Aufklärung hat uns die Wissenschaft, den Wohlstand2 und die Technik gebracht, den „freien Willen“ und die Überzeugung, dass jeder Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist. Und dennoch fehlt uns etwas, denn die Aufwertung der Vernunft durch die Aufklärung hat uns nicht glücklicher und zufriedener gemacht. Sie hat unser Vertrauen zerstört in das heimelige Gefühl des Eingebettetseins in ein Schicksal, das außerhalb unseres menschlichen Zutuns liegt. Unwägbarkeiten im Leben begegnen wir mit vorbeugenden Maßnahmen und Risikoabschätzung, wir haben keine Gewissheit mehr, dass es uns morgen gut oder besser geht, wenn wir selbst nichts dafür tun. Wir sind gefordert, Verantwortung zu übernehmen und können sie nicht abwälzen auf ein höheres Wesen. Das Erschreckende für uns Aufgeklärte ist allerdings, dass diese Eigenverantwortung bei vielen Menschen innerhalb und außerhalb Europas gar nicht so positiv wahrgenommen wird, wie wir es sehen. Denn selbst wenn die Segen der Aufklärung wie Wohlstand und Freiheit, höhere Lebenserwartung, mehr Bildung und weniger Hunger weltweit immer mehr Menschen zugute kommen sollte – sie sind nicht unbedingt froh darüber, ununterbrochen gefordert zu sein, das eigene Leben zu verantworten und immer mit der Furcht zu leben, einen Fehler zu machen, der ihnen die Zukunft raubt – ohne einen Gott, auf den sie ihre missliche Lage schieben können oder zu dem sie sich flüchten können. Und auch in Europa ist diese Kluft spürbar: die Aufgeklärten, die „Vernünftigen“, sehen sich einer immer noch sehr großen Gruppe in der Gesellschaft gegenüber, die den Preis der Aufklärung nicht bezahlen wollen oder können. Die sich flüchten in Tribalismus, in Nationalismus, Faschismus und Rassismus, in Verschwörungstheorien und krudeste Weltvorstellungen, von denen wir annahmen, dass wir sie eigentlich bereits vor Jahrhunderten hinter uns gelassen hätten. Und keine Segnungen der Aufklärung können sie davon abhalten, an ihren mittelalterlichen Vorstellungen festzuhalten, sich an Narrative zu klammern, die sich außerhalb der Vernunft bewegen, denn es sind nicht die Zahlen und Fakten, die sie verunsichern, es ist das Verlustgefühl des Irrationalen. Es ist das Gefühl, das etwas fehlt, was uns in unserer Unsicherheit auffängt, etwas das uns Halt gibt, wenn die Erkenntnis nicht mehr ausreicht, jener gallertartige Zustand der Pubertät, in dem nichts erkennbar, aber alles möglich ist, in dem Fiktion und Fakten umeinander kreisen – und aus dem uns die Aufklärung zu befreien verspricht, aber aus dem sich nicht jeder zu lösen vermag. Mit dieser Emotionalisierung umzugehen, das fällt uns allen doch sehr schwer. Wir sind ja alle eher trainiert auf Argumente, rationale Überlegungen. (W. Heitmeyer) „Die alte [Ethik] gliederte sich nach der Ordnung der Welt und konnte, indem sie deren Gesetz entdeckte, daraus das Prinzip einer Weisheit oder die Konzeption eines Staates deduzieren.“ (Die Ordnung der Dinge, M. Foucault) – Kreuzgang des Klosters Pedralbes, BarcelonaTrotz aller Utopien der Aufklärung sind Menschen keine Maschinen, keine Algorithmen oder gar mündige Wirtschaftssubjekte, die nur nach den Grundsätzen der „rational choice“ entscheiden. Wir fahren Auto, auch wenn wir wissen, dass dabei jährlich Tausende Menschen in unserem sonst so sicheren Land zu Tode kommen, wir essen Schweinefleisch, auch wenn wir wissen, dass wir dafür Tiere schlachten, die die intellektuellen Fähigkeiten eines Zweijährigen erreichen, wir kaufen Kleidung, die schon aufgrund ihres Preises dafür sorgt, dass die Näherinnen nie aus der Armut herauskommen. Ihren vorläufigen Höhepunkt hat die Industrialisierung, die ohne Aufklärung nicht stattgefunden hätte, in der weltweiten Digitalisierung und Standardisierung gefunden. Nachdem man in Europa und Nordamerika die Macht der Maschinen erkannt hatte und auch ihre Wirkung auf die Gesellschaft, folgt seit wenigen Jahrzehnten die globalisierte Digitalisierung des Alltags auf dem Fuß: es gibt keine Geldverschiebungen mehr ohne Computer3, keine Nachrichten, keine Verkehrsampeln, keinen Stundenplan und keine Lagerhaltung ohne digitale Hilfsmittel. Datenverarbeitung, Datenbanken, Datenübertragung – keine industrielle Errungenschaft kommt ohne aus. Selbst ein Hammer, der Inbegriff steinzeitlicher Technik, kommt nicht mehr ohne Berechnungen seiner Ergonomie in den Handel. Und das wird natürlich mit einem Computer berechnet, ausgewertet von Algorithmen aus riesigen Datenmengen orthopädischer Erkenntnisse. Aber Computer sind nur der vorläufige Zwischenhalt auf eine Fahrt, die mit der Dampfmaschine begann und eine zunehmende Entfremdung von harter manueller Arbeit mit sich brachte. Was zunächst positiv war und ist, indem uns Maschinen die schwere Arbeit abnehmen – keine kaputten Rücken durch Feldarbeit, keine Atemwegserkrankungen durch Mahlen von Getreide -, hat auch dazu geführt, dass uns Maschinen die Entscheidungen abnehmen. Die Frage nach dem Endpunkt der zunehmenden Digitalisierung des Alltags treibt vor allem die industrialisierten Zivilisationen um – betroffen sind in einer globalisierten aber alle. Ob Klimaveränderung oder Konflikte, Kulturen oder Krankheiten, die globale Kommunikation führt uns zum ersten Mal die Komplexität unserer Welt vor Augen – im Wortsinn. Die Anzahl der Kanäle, die Ereignisse auf der ganzen Welt innerhalb von Sekundenbruchteilen auf die Bildschirme unserer Smartphones schicken, ist dramatisch gewachsen. Nicht die Anzahl der Ereignisse ist es, sondern die Anzahl der Kanäle ist es, die in jeder Sekunde um unsere Aufmerksamkeit buhlen und uns hilflos zurücklassen: wir haben keine Zeit mehr für die vornehmste Aufgabe der Aufklärung. Wir haben keine Zeit mehr, die wichtigen von den unwichtigen Dingen zu trennen, weil alles gleich wichtig zu sein scheint. Wir können nicht mehr reflektieren über Zusammenhänge, Kausalitäten und Sinn, wenn alles gleichzeitig auf uns einstürzt. Unser kleiner unterentwickelter Verstand reagiert darauf genauso, wie es ein Server macht, der mit einer großen Zahl von Abrufen bombardiert wird: wir gehen in den DDoS-Modus und stellen aufgrund von Überlast den (mentalen) Betrieb ein.4 Dann verteufeln wir das Internet, bezeichnen Menschen, die den Umgang mit diesem Informations-Tsunami erlernen sollten, als „verblödet“ und wünschen uns in ein Traumreich zurück, in dem es keine Computer gab und man prinzipiell genauso unwissend sterben konnte, wie man geboren wurde. Das gibt es aber nicht mehr. Auch das wissen wir. Möglicherweise haben wir ja mit der Aufklärung zwar die klassischen Religionen aus unserem Alltag verbannt, aber durch eine andere Form der Gläubigkeit ersetzt: wir glauben an die Kraft und Macht der Gefühle. Emotionalisierung als Reaktion Das Tor zum „Torre de Bellesguard“ von Antoni Gaudí mit seiner eigenwilligen Interpretation der Gotik, die an Steampunk und Moebius erinnert. Emotionen sind wertfrei, sie sind nicht „gut“ oder „schlecht“, sie sind als biochemische Prozesse Teil des Menschen – und sie sind überlebenswichtig. Wir Menschen benötigen Emotionen, um als soziale Wesen zu funktionieren, um Entscheidungen zu treffen, die wir rational nicht begründen können. Wir können Emotionen leicht auslösen – es gibt kein anderes Tier, das in der Lage ist, bei der Betrachtung einer beleuchteten Wand zu lachen oder zu weinen5 – und auf ein Objekt, ein Tier oder einen Menschen lenken, aber wir können sie nicht kontrollieren. Liebe, Freude, Trauer, Wut, Angst – das lässt sich nicht per rationalem Entschluss auslösen oder beenden. Emotionen sind komplexe Prozesse, die in unterschiedlichen Teilen unseres Gehirns zu teilweise konträren Reaktionen führen: Ein Passant, der einen reifen Apfel von einem überhängenden Zweig pflückt, um ihn zu essen, freut sich zuerst auf den Geschmack, ärgert sich aber im nächsten Moment über den Besitzer des Baums, der plötzlich aus dem Haus kommt, ihn des Diebstahls bezichtigt und empfindet dann vielleicht sogar Wut und Hass auf den wohlhabenden Bauern, dem das Grundstück gehört, auf dem der Baum steht. Dieser Wechsel dauert nur wenige Augenblicke und kann bis zur physischen Auseinandersetzung führen, weil sich beide im Recht fühlen – es prügeln sich zwei erwachsene Menschen wegen eines Apfels… Lächerlich, denken Sie? Dann beobachten Sie mal Ihr eigenes Verhalten im Straßenverkehr, wenn im dichten Verkehr auf der Autobahn (also eigentlich immer) der Autofahrer (meist Männer, die genetisch dem Felsenpavian näher stehen als sie es wahrhaben wollen) hinter Ihnen ununterbrochen die Lichthupe betätigt, während Sie gerade entspannende Musik hören. Aber – Emotionen sind ein Gemisch aus biochemischen, neurologischen und sozialisierten Reaktionen. Das ist eine Stärke und Schwäche zugleich. Emotionen ermöglichen es Menschen, soziale Wesen zu sein, sich fortzupflanzen, Nachkommen zu beschützen und Gruppen zu bilden. Emotionen sichern unser Überleben als Menschen. In der langen Zeit unserer Entwicklung von einem affenartigen Wesen in der afrikanischen Savanne war es vor allem unser „Reptiliengehirn“ und unser limbisches System im Stamm- und Kleinhirn, dem wir unser Überleben zu verdanken haben. Das limbische System ist in erster Linie nur für vier entscheidende Emotionen zuständig, über die auch jedes andere Lebewesen verfügt: die vier „F“: Furcht, Fressen, Flucht und Fortpflanzung. Das ist angeboren und lebenswichtig, denn es führt dazu, dass wir nicht nachdenken, wenn uns als Fußgänger ein Auto entgegenkommt, sondern beiseite springen. Wenn wir erst darüber nachdenken müssten, auf wessen Seite die Straßenverkehrsordnung ist, behielten wir vielleicht recht, aber nicht mehr das Leben. Nicht nur in der Savanne vor hunderttausenden Jahren haben uns diese Emotionen das Überleben gesichert – sie haben uns auch geholfen, in großen Krisen und Not zu überleben – und tun es immer noch. Wenn die Nahrung fehlte durch Witterung oder Krieg, sind wir weitergezogen6 Emotionen aber haben einen großen Nachteil: Dadurch, dass sie unseren Verstand umgehen und ihren Wahrheitsgehalt aus der individuellen Verfassung schöpfen – man friert ja nicht, nur weil das Thermometer einen Wert anzeigt, sondern weil man die Kälte spürt – blockieren Sie auch Einsichten und Gedankenprozesse, die außerhalb ihres begrenzten Horizonts liegen. Dieser Kurzschluss macht uns anfällig, denn Eindrücke, die direkt unsere Emotionen ansprechen, werden nicht mehr reflektiert, sondern führen unmittelbar zu Reaktionen. In der Werbung ist das gewollt, weil sie nicht anders funktioniert: Es werden keine Informationen transportiert, sondern Träume angesprochen oder Vorurteile. Nur so kann in einer hochkomplexen Gesellschaft die langwierige intellektuelle Auseinandersetzung umgegangen werden. Kein Anbieter von Urlaubsreisen käme schließlich auf die Idee, die katastrophalen Lebens- und Umweltbedingungen in den Zielländern zu erläutern und dies mit der Bitte zu verknüpfen, doch dorthin zu fahren, weil die Menschen dort doch sonst gar kein Auskommen mehr haben… Was wir in der Werbung für normal halten, hat in anderen Lebensbereichen aber zunehmend negative Folgen: weil beispielsweise Fastfood für die spontane Bedürfnisbefriedigung steht und auch so vermarktet wird, werden Urwälder vernichtet (Tiermast), Abfallgebirge erzeugt (Verpackung) – und Herz- und Kreislauferkrankungen stehen in Europa und den USA auf dem Spitzenplatz der Todesursachen. Noch dramatischer sieht es im gesellschaftlichen (und damit politischen) Alltag aus: Dank der Möglichkeiten moderner Kommunikationsplattformen steigt die Versuchung, jede emotionale Regung unreflektiert direkt aus dem Kleinhirn auf den Bildschirm zu klatschen. Das ist kein Problem der sozialen Medien, sondern das Resultat einer Emotionalisierung der Gesellschaft. Auf diesem Instrument spielen aber nicht nur Unternehmen, die ihre Produkte verkaufen wollen, sondern eben auch andere gesellschaftliche Gruppen, die sich einen Vorteil davon versprechen, wenn ihre „Produkte“ unreflektiert das Kleinhirn erreichen und auf die gleiche Weise auch dann wieder verlassen. Manche gesellschaftliche Gruppen sind sogar darauf angewiesen, dass möglichst nur das limbische System angesprochen wird, damit der Frontalkortex keine vernünftigen Fragen stellt – sonst würden sich die Behauptungen nämlich schnell als intellektuelle Luftnummern herausstellen, die mehr Probleme verursachen als sie zu lösen vorgeben. — Nachdem wir uns also in Europa dank der Aufklärung aus der geistigen Begrenztheit religiöser Dogmen befreit hatten, während in vielen Ländern außerhalb Europas religiöse Bewegungen noch immer einen starken Einfluss auf die Gesellschaft und ihre Politik haben, nimmt deren Stärke in Europa und den USA kontinuierlich ab.7 Aber dies ist teuer erkauft, denn in dem Maß, wie der Einfluss der Religion in Europa abnimmt, nimmt nicht die Aufklärung zu, sondern die Emotionalisierung: Wirtschaftliche und gesellschaftliche Gruppen klopfen ihre Bedeutung und Inhalte nicht darauf ab, ob sie vernünftig sind, sondern ob sie sich emotional „verkaufen“ lassen. Nicht die Frage, ob eine Idee für alle vernünftig und umsetzbar ist, steht im Vordergrund, sondern ob sie „Likes“ bringt, Beliebtheitswerte in Umfragen oder schlicht Sendezeit in Medien. Dabei sollte eigentlich die Frage im Vordergrund stehen, die schon Kant 1785 mit dem „kategorischen Imperativ“ formulierte: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Auch wenn diese Vorgabe in den letzten 200 Jahren vielfach ergänzt und modifiziert wurde, ist die Idee dahinter immer noch eindeutig: eine Emotion darf nie eine allgemeine Handlungsgrundlage sein. Da Emotionen aber schneller sind als der Verstand, müssten wir es uns angewöhnen, nicht unseren Gefühlen blind zu vertrauen, sondern unserer Ratio. Wir sind ja schließlich die Spezies des Homo sapiens. Es wird wieder Zeit, dass wir uns wieder mehr darum kümmern, erst zu denken und dann zu handeln. Literatur/Quellen 21 Lessons for the 21st Century, Y. N. Harari 2018 „Der Begriff ‚Rechtspopulismus‘ ist viel zu verharmlosend“, Wilhelm Heitmeyer im Gespräch mit Thorsten Jantschek, Deutschlandfunk 10.11.2018 Die Ordnung der Dinge, M. Foucault, 1997 Behave – The Biology of Humans at Out Best and our Worst, R. Sapolsky, 2017 Das Beharrungsvermögen des Einzelnen auf dem, was vor noch wenigen Jahren als Erkenntnis galt, trennt auch heutzutage noch Gesellschaftsgruppen – mit teilweise fatalen Folgen. Die intellektuelle Faulheit schürt das Klammern an Dogmen, an längst überholte Annahmen, die gerade im globalen Kontext ein zivilisatorischer Rückschritt sind: die Vorstellung, dass man angesichts der realen globalen Vernetzung von Staaten die Grenzen seines Landes schließen könne wie eine Zugbrücke, zeigt beispielhaft, in welch geistigem Jahrhundert die Vertreter einer solchen Ansicht sind. ↩In der „ersten“ Welt sterben mehr Menschen daran, dass sie zuviel essen statt zu wenig. ↩Der Transfer großer Summen Bargelds in Koffern ist zwar noch Bestandteil eines mittelprächtigen Drehbuchs in Vorabendkrimis, aber längst von der Realität überholt, wie die „Panama Papers“ zeigen. ↩DDoS: distributed denial of service. Siehe auch wikipedia ↩Beobachten Sie mal einen Hund oder eine Katze vor dem Fernseher: wedeln die mit dem Schwanz oder fauchen die bei „Lassie“ oder „Aristocats“? Nein? Eben! ↩Der Westen der USA wurde auch deswegen hauptsächlich von irischen Einwanderern „erobert“, weil in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Irland aufgrund der Ernteausfälle bitterste Armut und Hungersnot herrschte. Und deutsche Auswanderer sammelten sich in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht deswegen in Bremen, weil die Wirtschaftskrise so viel Spaß gemacht hat. Selbst Homo Sapiens ist nicht aus reiner Lebensfreude aus dem warmen Afrika ins kalte Europa eingewandert. ↩Die Tatsache, dass die Hauptstadt des britischen Empire von einem Muslim regiert wird, hätte noch vor 50 Jahren zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen in London geführt. Darüber sind wir glücklicherweise hinaus… ↩Teilen mit:MastodonWhatsAppE‑MailBlueskyMehrDruckenLinkedInTelegramPinterestGefällt mir:Gefällt mir Wird geladen … thinkware featuredGeschichteGesellschaft
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