Onlinehilfen: Form follows function 31.12.202302.01.2024 Vor etwas mehr als zehn Jahren hatte ich hier einen Artikel gepostet, der sich mit der Wahl einer geeigneten Schrift für die technische Dokumentation beschäftigt. Es wird Zeit für ein Update. In den letzten zehn Jahren hat sich nämlich auch in der technischen Dokumentation viel getan, das vor allem mit der Globalisierung und dem Internet zu tun hat. Anleitungen werde nicht mehr gedruckt (oder nur noch in Teilen), Anleitungen sind mobil geworden. HTML5 und CSS3 haben Papier, Index und Fußzeilen aufs Abstellgleis der Kommunikationsmedien geschoben, wo es sie zwar noch lange geben wird, aber nie mehr mit der Relevanz, die sie noch vor einem Jahrzehnt hatten. Technische Dokumentation, das bedeutet heute: Verfügbarkeit, Mehrsprachigkeit, Mobilität und Aktualität. Damit können die gedruckten Ausgaben kaum noch mithalten. Ein Wiki als Paradebeispiel der „leichtgewichtigen“ und besonders schnellen Informationsbereitstellung ist dreimal ergänzt und verfügbar, bevor die gleiche Information aus dem Drucker quillt und in der Ablage abkühlt. Mit diesen Anforderungen stellen sich aber auch andere Fragen an das Medium, mit dem die Information transportiert wird – nicht die PDF oder die Seite ist das Maß aller Dinge, sondern der Bildschirm. Und zwar in allen erdenklichen Größen: vom 17″-Tablet bis zur Smartwatch. Nicht mehr klicken und ziehen, rechte Maustaste und Tastaturakrobatik sind gefragt, sondern wischen, tippen und drücken, drehen und Fingerspreizen. Die Interaktion mit dem Kommunikationsträger und seine Funktion als „Netzwerkstecker“ ist zum tragenden Element eines gigantischen Netzwerks geworden, dessen Auswirkungen wir noch gar nicht überblicken können. Die technische Dokumentation ist da draußen Wenn technische Information benötigt wird, suchen wir auf der Internetseite des Herstellers oder irgendwo im Internet nach einem Kurzvideo (Tutorial). Die Information, die wir suchen, muss sofort zur Verfügung stehen, schnell auf den Punkt kommen, und leicht verständlich sein. Wir wollen keine umständlichen Einleitungen und Funktionsbeschreibungen, wir wollen Hyperlinks und Drop-Downs. Wir wollen wissen, was dort steht – wir wollen nicht wissen, wo es steht. Und dieses Wissen bekommen wir: gigantische Serverfarmen, die im Mikrosekundentakt beliebige Suchanfragen verarbeiten und Ergebnisse auswerfen, deren Sinn sie nicht verstehen, den wir aber erst erzeugen müssen. Das ist unser Job als Technikredakteure. Wir füttern diese Bibliothek. Wir müssen uns auch darum kümmern, dass sie erfassbar ist. Wir haben dafür zu sorgen, dass sie „fliegt“. Ausschnitt aus einer umfangreichen Onlinehilfe, die dank mehrerer typografischer Kniffe gar nicht mehr so sperrig wirkt. Wie aber macht man das? Form follows function Zunächst einmal ist eine Bildschirmseite niemals deckungsgleich mit einer Druckseite: abhängig von der Bildschirmausrichtung wird sie anders erfasst und benutzt. Die Leseentfernung eines gedruckten Dokuments ist meist ziemlich konstant. Sie wird bestimmt von der Umgebungshelligkeit, dem Kontrast, der Schriftgröße, dem Zeilenabstand und der Blattgröße. Eine Onlinehilfe ist dagegen unempfindlich hinsichtlich der Umgebungshelligkeit, da die Bildschirmhelligkeit und damit Helligkeit der Darstellung vom Benutzer direkt angepasst werden kann. Da die mobilen Lesegeräte geschwenkt werden können und so mit der Inhalt sowohl querformatig als auch hochkant gelesen werden kann, wird der verfügbare Platz auf dem Bildschirm anders genutzt. Laptops und stationäre Bildschirme dagegen sind fast ausschließlich querformatig. Damit vergeben sie viel Platz auf dem Bildschirm, der nicht mehr für den Text genutzt wird, sondern für Funktionen, die den Nutzwert des Inhalts erhöhen. 1Die Zeilenlänge eines Textes, die beim Lesen zuverlässig erfasst wird, liegt meist um die 80 Zeichen. Bei längeren Zeilen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man beim Lesen verrutscht und dabei das Auge nicht mehr in Sakkaden vorwärts springen kann, sondern zur Kontrolle wieder zurück, was sich negativ auf die Erfassung auswirkt. Bildschirmtypografie besteht allerdings nicht nur aus einem Schriftbild, das dem Lesekontext angepasst ist Hinsicht Schriftgröße, Kontrast oder Auflösung (Letzteres ist nicht mehr so relevant, da die Bildschirme zunehmend über eine höhere Auflösung verfügen – insbesondere Mobilgeräte wie Smartphones oder Tablets). Bildschirmtypografie besteht auch in der technischen Dokumentation aus der geschickten Ausnutzung des Bildschirmplatzes, der zu Verfügung steht. Dazu stehen mehrere Optionen zur Verfügung : Aufklappmenüs und expandierende Texte: Nur die Überschrift wird angezeigt und der Benutzer kann durch Anklicken des Textes oder eines Icons den gesamten Inhalt anzeigen oder verbergen. Dies kann man für Abschnitte innerhalb einer Seite verwenden, um zu verhindern, dass die Leser aus der Seite heraus auf eine andere Seite navigieren müssen und gegebenenfalls nicht mehr zurück finden. „Popover“: Zusätzliche Informationen oder Funktionen werden in einem Fenster angezeigt, das den bestehenden Inhalt verdeckt. Dies kann beispielsweise eine Glossarfunktion sein oder auch eine Bestellfunktion, die die Leser optional aus der Seite hinausführt. Sobald diese Option nicht genutzt wird, wird das Fenster geschlossen und die Benutzer befinden sich immer noch auf der ursprünglichen Seite. Bei Bildschirmen im Querformat (gedreht oder als Standard) die Nutzung des leeren Raums auf einer oder beiden Seiten des Inhalts als Navigation oder Funktionen, mit der man die Seite verlässt. Durch die Position außerhalb des Inhalts werden diese Optionen angezeigt ohne die Erfassung zu verdecken. „Responsive Design“: die Darstellung variiert mit der Breite des Fensters. Da die Inhalte einer Onlinehilfe im Browser angezeigt werden, reagiert das Layout (Anordnung, Darstellung, Zeilenhöhe, Zeichengröße etc.) auf die Fensterbreite des Browsers. Ausreichen Platz auf dem Bildschirm vorausgesetzt, können die Benutzer die Darstellung anpassen, indem sie das Browserfenster breiter oder schmaler machen. Blätterfunktion: die Leser können durch Aktivieren eines Icons oder einer Schaltfläche zur folgenden oder vorigen Inhaltsseite „blättern“. Dies erlaubt eine lineare Navigation ähnlich der Bedienung von Büchern. „Breadcrumbs“: die Brotkrumennavigation zeigt den Lesern anhand der Überschriften, in welchem Bereich sie sich befinden. Ist sie mit Links hinterlegt, können die Leser eine Ebene in der Hierarchie „höher“ springen. Dabei können bei ungeschickter Vergabe von Überschriften (langen Texten) oder großer Strukturierungstiefe sehr umfangreiche Breadcrumbs entstehen, die wertvollen Bildschirmplatz besetzen. Bildzooming: Bilder können im Gegensatz zur gedrucktem Text als „Vorschaubild“ eingesetzt werden, das erst durch Aktivierung in korrekter Größe als Popover dargestellt wird. Dies spart Bildschirmplatz. Navigation und Suchfunktion: Auch wenn die Suche oder Navigation keine typografische Funktion haben, benötigen sie Platz auf dem Bildschirm, vor allem wenn sie auch beim Scrollen sichtbar bleiben sollen. Dieser Platz muss in der Typografie berücksichtigt werden. Progressive Disclosure in der Onlinehilfe: die Abschnitte werden „versteckt“ und sind erst durch Aktivieren als Aufklappfenster sichtbar. 2Progressive disclosure is an interaction design pattern used to make applications easier to learn and less error-prone. It does so by deferring some advanced or rarely-used features to a secondary screen and designing workflows where information is revealed when it becomes relevant to the current task. (Wikipedia) Im Gegensatz zu einer Seite auf Papier kann eine Bildschirmseite beliebig lang sein – die Benutzer müssen halt mitunter länger scrollen. Längeres Scrollen bedeutet aber auch längeres Lesen und damit mehr Zeit, Inhalte zu erfassen. Das ist kontraproduktiv, denn die Benutzer sollen die wesentlichen Inhalte möglichst schnell erfassen können um zu entscheiden, ob die Inhalte im Kontext relevant sind. Das Ziel der Onlinehilfe muss es sein, den Benutzern genau diese Entscheidung zu erleichtern. Technische Dokumentation ist Selbstermächtigung der Produktbenutzer:innen. Sie zu ermächtigen, ein Produkt sicher und gefahrlos zu benutzen ist das primäre Ziel jeder technischen Dokumentation. Fazit Auch wenn die Funktion der Informationsvermittlung im Vordergrund der technischen Dokumentation steht, bedeutet dies nicht, alle Funktionen und Möglichkeiten blind zu nutzen und willkürlich auf der Seite zu verteilen (sofern der Editor dies zulässt) oder gar nicht zu nutzen (weil der Editor dies nicht zulässt). Die Kunst besteht wie bei jedem guten Layout darin, die Funktionen der Onlinehilfe optimal zu nutzen, um die Balance aus Lesbarkeit und Informationsdichte zu erreichen. Dabei spielt allerdings auch das mentale Modell und die Benutzererwartung eine wichtige Rolle – neben den technischen Begrenzungen wie Datenübertragungsgeschwindigkeit und Funktionalität des Browsers. Für die technische Redaktion ist es daher vorteilhaft, sich auch mit Fragen der Usability und der Online-Didaktik zu beschäftigen. 1Die Zeilenlänge eines Textes, die beim Lesen zuverlässig erfasst wird, liegt meist um die 80 Zeichen. Bei längeren Zeilen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man beim Lesen verrutscht und dabei das Auge nicht mehr in Sakkaden vorwärts springen kann, sondern zur Kontrolle wieder zurück, was sich negativ auf die Erfassung auswirkt.2Progressive disclosure is an interaction design pattern used to make applications easier to learn and less error-prone. It does so by deferring some advanced or rarely-used features to a secondary screen and designing workflows where information is revealed when it becomes relevant to the current task. (Wikipedia)Teilen mit:MastodonWhatsAppE‑MailBlueskyMehrDruckenLinkedInTelegramPinterestGefällt mir:Gefällt mir Wird geladen … online publishing technische dokumentation HTMLInternet
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