Bloggen, Selbstdarstellung und die Digitalmigranten 12.07.201807.10.2023 Das Internet ist die wohl demokratischste Erfindung der letzten hundert Jahre. Jeder kann dort mit wenig Aufwand seine Ansichten kundtun. Die Generation der Digitalmigranten tut sich oft aber sehr schwer mit einer Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache. Im Internet zu veröffentlichen ist vermutlich noch einfacher und billiger als eine Geburtstagseinladung zu schreiben. Man benötigt nämlich nur einen Webspace (der manchmal sogar kostenlos ist – dann allerdings mit Werbeeinblendungen finanziert wird1 ) und eine kostenlose Software wie WordPress, die man darauf installiert. Wer das direkt bei Automattic macht (das sind die Leute hinter WordPress) oder einem der zahlreichen deutschen Anbieter, der bekommt eine fix und fertig eingerichtete Seite, in die er „nur“ noch seinen Inhalt hineinlegen muss. Und genau an der Stelle steigen die Digitalmigranten aus: „Wie? Das kann jeder lesen? Wirklich? Warum sollte ich denn meine Ansicht in die Welt hinausposaunen?“ Ja, warum? Die Frage ist eigentlich falsch herum gestellt, denn es müsste – zumindest hierzulande – lauten: „Warum nicht?“ Wir haben in Europa nach Jahrhunderten der Unterdrückung abweichender Lebensentwürfe und Meinungen in diesem Jahrtausend einen Grad an Meinungsfreiheit errungen, der in der Geschichte bisher unbekannt war. Warum nutzen wir ihn nicht, um mehr als nur kurze Statements in Tweets hinzurotzen oder belanglose Allerweltsnachrichten auf Webseiten zu hinterlassen, deren einziger Daseinszweck darin besteht, uns noch mehr Zeug zu verkaufen, dass wir vermutlich nie brauchen? Warum ist es so schwierig für den Digitalmigranten2, sich selbst und seine Welt im Internet darzustellen? Die technischen Möglichkeiten gibt es, und sie sind nicht schwerer zu bedienen als eine Kaffeemaschine. Wo „digital Natives„3 bedenkenlos drauflos chatten und Äußerungen von sich geben, die ihnen in wenigen Jahren vermutlich peinlich sein werden, leben Digitalmigranten oft mit der Ansicht, dass ihre Stimme unwichtig sei oder sie sich damit schaden. Das stimmt aber nicht: Natürlich gibt es Grenzen, die eine gelungene Sozialisation setzt – und ihre Übertretung kann sehr unangenehme Folgen haben4, aber im Gegensatz zu den „sozialen Medien“, in denen sich viele Teilnehmer eher asozial geben, ist ein Blogbeitrag ein ausformulierter Text, der gewissen sprachlichen Mindeststandards genügen sollte (sonst liest ihn niemand). Man muss es sich als Blogger immer schon vorher überlegen, was man von sich gibt, denn das Internet vergisst und vergibt nichts. Was nun den älteren Mitbürgern in Deutschland die Schauer über den Rücken jagt, weil dieser Zustand fast automatisch Erinnerungen an totalitäre Regierungen des letzten Jahrhunderts weckt, stellt für die sorgenfrei aufgewachsenen „Digital Natives“ kein Problem dar. Im Gegenteil, sie sind so aufgezogen worden, dass die permanente Selbstpräsentation zu einem Teil des eigenen Egos geworden ist: Wer keine Selfies macht oder sich öffentlich über seine Gefühle auslässt, hat ein Sozialisationsproblem. Vielleicht gilt das auch umgekehrt für den Digitalmigranten: seine Sozialisation ist irgendwann in den neunziger Jahren steckengeblieben. Er steht – abgesehen von einer heimlichen Faszination für technische Spielereien – den Gegenständen mit technischem Nutzen und sozialem Gebrauchswert eher skeptisch gegenüber. Kommunikation im Internet (zum Beispiel in seiner individualisierten Form als Blog) hat für ihn weniger Nutzen als ein Geschirrspüler. Er hat sich in einem Leben eingerichtet ist, in dem man eher hinnimmt, was man meint nicht ändern zu können, als ändern zu wollen, was man nicht hinnehmen kann. Selbstdarstellung ist ihm ein Gräuel, Konformismus ist die Regel. Das ist in vieler Hinsicht das Gegenteil dessen, was die Millenials und Digital Natives ausmacht: hier ist eine gewisse Nonkonformität die Norm. Was wir als Digitalmigranten uns nie zu äußern trauten, das wird von den Digital Natives „geshared“ und mit so vielen „Freunden“ geteilt wie es eben geht. Digitalmigranten können das nicht, die sind darauf aus, in jeder Lebenslage zu funktionieren. Die wollen keinen „Shitstorm“ erleben und können sich auch nicht mit mehr oder weniger ernst gemeinten Beleidigungen im Internet auseinandersetzen. Die nehmen das persönlich. Und weil das Internet da draußen für die Digitalmigranten eben kein Spiel ist, bei dem sich alle Inhalte (die ja gewissermaßen die verschiedenen Facetten der eigenen Gefühls- und Gedankenwelt repräsentieren) mit den unterschiedlichsten Formen und Darstellungsarten kombinieren lassen, ohne dass man daran Anstoß nimmt, so können sie auch wenig damit anfangen, eigene Ideen, Ansichten, Wünsche, Meinungen und Vorstellungen mit einer ihnen unbekannten Außenwelt zu teilen. Nun muss sich heutzutage glücklicherweise kein aspirierender Blogger mehr wie noch vor 15 Jahren sein Layout selbst zusammennageln – er kann mittlerweile auf Themes5 zurückgreifen wie in einem Klamottenladen im Londoner Westend. Was immer man meint, dass zum Aussehen oder der aktuellen Gefühlslage und Stimmung passt, lässt sich dem vorhandenen Grundgerüst des Blogs verpassen und den Inhalt in einem anderen Licht erscheinen. Londoner Westend Das allerdings ist einfacher gesagt als getan, denn wie bei der Kleiderwahl und der Anpassung an die eigene Stimmung muss man auch als Blogger wissen, was man sinnvoll miteinander kombinieren kann, ohne dass sich die möglichst vorteilhafte Selbstdarstellung ins Gegenteil verkehrt. Mit Aufwand oder gar Programmierkenntnisse hat es allerdings nichts mehr zu tun. Aber wie auch in den Klamottenläden ist für viele Blogger (und noch mehr für die Designer der Themes) der aktuelle Trend wichtiger als die passgenaue Kombination aus Form und Inhalt des Blogs. Das führt dann wie bei der Kleiderwahl zu manchmal bewusst gewählten „schrägen“ Kombinationen, aber meist eher nichtssagenden Seiten, in denen sich angehende Blogger austoben möchten, ihnen aber nach kurzer Zeit und wenigen Beiträgen die Luft und Lust ausgeht. Auch das schreckt Digitalmigranten ab. Und das ist schade. Bloggen ist nämlich nicht nur ein netter Zeitvertreib, der ein bisschen die eigenen Fabulierkünste und Wortdrechseleien übt, sondern auch die vermutlich billigste und weitreichendste Möglichkeit, seinen Gedanken und Meinungen Gehör zu verschaffen. Was den Blogger nämlich auszeichnet, ist die Bereitschaft, sich mehr oder weniger regelmäßig zu äußern. Halten wir kurz fest: ein Blog, das sind eigene Meinungen und Ansichten zu einem beliebigen Thema in Wort und Bild gegossen und mit einem beliebigen Aussehen verziert. Die Inhalte stehen zumeist einer beliebig großen Leserzahl zur freien Verfügung und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und „Wahrheit“. Sie sind keine Nachrichten und repräsentieren völlig willkürlich einen Ausschnitt aus der Lebenswirklichkeit des jeweiligen Autors. In manchen Ländern außerhalb Europas ist das bereits gefährlich, wenn nämlich der Autor bewusst Ansichten kundtut, die der Regierung oder einflussreichen Gruppen und Menschen nicht genehm sind. In dieser Hinsicht ist ein Blog sozusagen die digitale Version des mittelalterlichen Spottgedichts oder der bewusst trivialisierenden Darstellung der Heiligen in einem mittelalterlichen Kirchenportal (durch das auch die Verspotteten gehen mussten). Ein Blog kann manchmal eine Waffe sein. Meist aber ist es nur eine einfache Möglichkeit, der Welt eine eigene Geschichte entgegenzusetzen statt nur passiv hinterherzulaufen. Merke: Wenn das Produkt nix kostet, bist du das Produkt… ↩Digitalmigranten sind die Generation, die dem Internet bei seiner Geburt zugesehen haben, und die noch das „TRRRRR-ZZCHHH-FFFIIIIIIIl“ eines Modems im Ohr haben, das mit 14400 Kbit/s versucht, eine Verbindung zum Server aufzubauen – oft nicht sehr erfolgreich… Diese Generation hat bei ISDN den Anschluss verloren und druckt E‑Mails zur Aufbewahrung aus. ↩Digital Natives sind die wahren Kinder des Internetzeitalters, die Millenials, die, deren Geburt bereits lückenlos auf Facebook mit Fotos dokumentiert ist. ↩Das ist wie Lästern über den Chef, während er hinter einem steht. ↩Themes sind Vorlagen, mit denen sich der Inhalt eines Blogs in jede gewünschte Form bringen lassen kann. ↩Teilen mit:MastodonWhatsAppE‑MailBlueskyMehrDruckenLinkedInTelegramPinterestGefällt mir:Gefällt mir Wird geladen … Internet GesellschaftInternet
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