Internetnutzung: Wir glotzen auf Waschmaschinen 01.11.201821.11.2018 Seit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern ab 1450 hat wohl kein Kommunikationsmittel die Gesellschaft mehr herausgefordert als das Internet. Wie gehen wir damit um? Dabei haben wir technologisch zumindest einen weiten Weg zurück gelegt: vom Wiegendruck sakraler Dokumente über den Schnelldruck geschäftlicher Unterlagen, Gedichtbänden, Schulbüchern, Nachschlagewerke und Taschenbücher sind wir beim Tonträger angekommen. Dann folgte zum Ton das Radio und der Fernseher. Auffällig ist: es handelt sich ausschließlich um Medien, bei denen der Urheber der Nachricht sich an viele Adressaten wenden kann, diese aber fast keine Möglichkeit haben, darauf zu antworten.1 Bis jetzt. Das eindimensionale Netz In der Frühzeit des Internets herrschte tatsächlich die Meinung vor, es sei nur eine andere Plattform der Nachrichtenübermittlung: bunter als FAX, einfacher als Telefon und billiger als Fernsehen. Dementsprechend eindimensional waren auch die Internetseiten und Kommunikationsstrategien ausgelegt. Eine Internetseite diente der eigenen Darstellung, Nutzerbeteiligung war eher lästig. E‑Mails wurden bunter, aber antworten konnte man darauf nicht. Firmen schossen aus dem Boden, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, diese eindimensionalen Kanäle zumindest sichtbar zu machen – Firmen wie Altavista, Yahoo, Bing, DuckDuckGo oder Google. Die meisten Anbieter sind mittlerweile untergegangen, aber ihnen allen ist gemein, dass sie die Herrscher eines eindimensionalen Kommunikationsraums waren (und sind). Sie definieren, was gesucht wird und was auffindbar ist. Über ihre Server laufen die Anfragen, über ihre Algorithmen wird die Wahrscheinlichkeit bestimmt, dass Inhalte gesehen werden – oder eben in den abertausend Treffern eines Suchbegriffs untergehen. Da dieses eindimensionale Netz aber Fachleute benötigt, die es betreiben und die Kommunikationskanäle einrichten, konnte nicht jeder Teilnehmer am Internet auf diese aktive Seite wechseln. Nicht jeder ist ein Journalist, Programmierer oder hat die Zeit und die Möglichkeiten, sich für den Betrieb und die Pflege eines Servers, einer Domain, einer Plattform oder eines Newsrooms die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen. Die meisten „User“ bleiben draußen. Das anderthalb-dimensionale Netz Um zumindest für die Enthusiasten und Hobby-Journalisten eine Möglichkeit zu bieten, an der Informationsvermehrung im Internet teilzuhaben, wurde das Blog erfunden – Jedermann ist in der Lage, für ein Spottgeld und mit minimalem Aufwand zumindest einen eindimensionalen Kommunikationskanal einzurichten. Da es sich meist um „One-Man-Shows“ handelt, bleibt es für die Betreiber in den allermeisten Fällen nur ein Hobby – allerdings mit dem Nebeneffekt, dass die Leser (bei Video-Blogs, kurz „Vlogs“) oder Zuschauer direkt Kontakt mit dem Urheber aufnehmen können. Im Gegensatz zu einer mehr oder weniger anonymen und großen Plattform wie einer Zeitung, die ihre liebe Not damit hat, ernstgemeinte Zuschriften von Trollen zu unterscheiden, lässt sich in einem Blog eine direkte Kommunikation mit dem Autor aufbauen: der Leser kann antworten. Damit entsteht eine Interaktion, bei der das Internet aus der passiven Rolle des Schalltrichters herauskommt und eine Rückkopplung zum Urheber erhält.2 Aber auch bei Blogs und privaten Seiten ist festgelegt, wer der Urheber ist und wer der Empfänger der Information: ohne Blogeintrag, “Post” oder Video gibt es keinen Kommentar. Das zweidimensionale Netz Allen Angeboten bislang ist gemein, dass sie eine klare Rollenverteilung und damit auch Wissenshierarchie voraussetzen, denn der Urheber ist immer der Sender. Oder – um eine Analogie zu benutzen: Es ist bislang immer eine Person, die die Waschmaschine einschaltet – und eine andere, die auf die rotierende Trommel starrt. In diesem Jahrtausend ist durch die „Erfindung“ der „sozialen Netze“ allerdings eine echte Zweidimensionalität entstanden: Der Betreiber stellt nur noch eine Plattform zur Verfügung und erlaubt es (mehr oder weniger) jedem Benutzer, gleichzeitig Autor und Leser zu sein. Ob Facebook oder Twitter, Instagram, Medium oder Trello – sie kontrollieren Informationen nicht mehr auf ihren Wahrheitsgehalt, sondern sie stellen philosophische Einsichten, bahnbrechende Erfindungen, folgenschwere politische Entscheidungen, persönliche Meinungen, Beleidigungen und Beschuldigungen bis hin zu kriminellen Äußerungen unsortiert nebeneinander. Für die Leser, die keinen Social Media-Account besitzen oder dort nie unterwegs sind: Man stelle sich einen Bücherflohmarkt vor, auf dem jeder Aussteller Textschnipsel aus den Büchern vorliest, die er auf seinem Grabbeltisch hat – und um besser gehört zu werden, benutzen manche ein Megafon und andere stellen sich auf den Tisch und grölen. Dies verursacht eine Kakophonie, ein ohrenbetäubendes Geschrei und Gebrülle, bei dem jeder meint, er müsse sich mit mehr Lautstärke gegen einen Mitbrüller durchsetzen. Die Waschmaschine ist im Schleudergang – und wir sind mittendrin. Aber auch wenn es nicht so aussieht: für die menschliche Kommunikation ist dies tatsächlich ein Fortschritt. Kopf im Sand? Es wäre vollkommen falsch, wenn man versuchte, hier per gesetzlicher Verordnung oder technischen Filtern diesem Chaos „den Strom abzudrehen“ – so als ob man keinen Bücherflohmarkt mehr zuließe oder alle Waschmaschinen abschaltet, weil sie so laut schleudern. Der Mensch ist ein Kommunikationswesen und ohne Kommunikation verloren. In unserer Evolution vom steinewerfenden Primaten zum Homo Sapiens war es die Kommunikation, die es uns erlaubte, den Planeten zu besiedeln und uns gegen stärkere Tiere und widrige Naturereignisse durchzusetzen. Unser Handeln und unser Selbstverständnis wird von Kommunikation bestimmt – ob wir sie nun Erziehung oder Sozialisation nennen. Wir brauchen Kommunikation wie Nahrung und Licht. Und wie bei Nahrung und Licht ist es das Zuviel, das schadet. Statt uns aber in Höhlen zu hocken und langsam zu verhungern, haben wir Menschen es gelernt, mit der Dosis umzugehen, zu wissen, man nicht direkt in die Sonne schaut, welche Nahrung für uns essbar ist und wann man Vorsichtsmaßnahmen treffen muss, um das Risiko zu verringern. Denn lernfähig sind wir ja auch. (Meistens jedenfalls – und oft nur langsam.) Wozu wir bei Nahrung aber hunderttausende Jahre Zeit hatten und auch die Kommunikation seit Gutenberg innerhalb von 500 Jahren anpassen konnten, stellt das Internet und vor allem die zweidimensionale Kommunikation uns vor Herausforderungen, auf die wir noch kein Rezept haben.3 Vielleicht ist es in dieser Hinsicht nicht besonders schlau, dem Einzelnen selbst zu überlassen, wie er mit dieser Kakophonie umgeht, wie er unterscheiden lernt zwischen „Fake News“ und „Real News“, zwischen Meinungen und Tatsachen, zwischen Behauptungen und Beweisen. Dies ist ein gesellschaftlicher Bildungsauftrag. Ihn zu missachten, spaltet unsere Gesellschaft: nicht so sehr in „bildungsnah“ und „bildungsfern“, sondern in eine kleine Gruppe der Kommunikationsfähigen – und eine große Gruppe der Kommunikationsunfähigen, bei denen zu Recht nur das Gefühl bleibt, zurückgelassen zu werden in ihrer Bedeutungslosigkeit. Natürlich konnte man einen Brief an den Autor oder die Redaktion schreiben, aber außer Fachleuten, den im Text Erwähnten oder Dauernörglern nutzte das kaum jemand. ↩Es gibt – wie übrigens in diesem Blog auch – eine eigene Spezies der Kommentarverwalter (z.B. Disqus), die es erlauben, dass mit einer einmaligen Anmeldung alle Kommentarspalten benutzt werden können, die auf sie verweisen. Für den Betreiber der Seiten entfällt dadurch viel Administrationsaufwand, für den Benutzer erhöht sich die Bequemlichkeit, mit einem Konto auf zahlreichen großen und kleinen Plattformen kommentieren zu können. ↩Zumindest kein brauchbares Rezept, denn den Kopf in den Sand oder die Finger in die Ohren zu stecken, ist definitiv kontraproduktiv: Damit verbauen wir unserer Lernfähigkeit die Möglichkeiten, uns anzupassen. ↩Teilen mit:MastodonWhatsAppE‑MailMehrDruckenLinkedInTelegramPinterestGefällt mir:Gefällt mir Wird geladen … Bildung Internet GesellschaftSchule
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