Klamm in Wales 21.05.202309.10.2023 Nein, hier ist mal nicht das Pekuniäre gemeint, sondern das echt Britische: Wales ist klamm. Also hinsichtlich der Feuchtigkeit. Das andere vielleicht auch, betrifft uns Radreisende aber nicht so sehr. Regen in Großbritannien kann entgegen der landläufigen Ansicht sehr ausdauernd sein, was besonders bei Radreisen mit Zelt und Kocher extrem ärgerlich und demotivierend ist, denn irgendwann ist alles durchfeuchtet und aus dem Urlaub mit Rädern wird ein Survivaltraining. Die Regel Nummer Eins beim Reisen ist daher: Immer genug Puffer einplanen, damit man kurzfristig auf eine einfache Unterbringung im Trockenen oder gar eine Überbrückung der Strecke mit Bahntransport umsteigen kann. Wir hatten die Strecke nämlich zu groß geplant. Ausgehend von deutschen und europäischen Radwegen hatten wir nicht mit der Vielzahl der extremen Steigungen in Wales gerechnet und wollten ursprünglich die gesamte Südhälfte der walischen Halbinsel umfahren. Das hat sich aber nach unserer Abfahrt in Oxford als zu naiv herausgestellt, als wir Wales noch gar nicht erreicht hatten: Nicht nur, dass wir am ersten Tag in den britischen Dauerregen gerieten, der wohl den gesamten April bereits dafür gesorgt hatte, dass die unbefestigten Wege Richtung Wales sich in reine Schlammwannen verwandelten – auch der schlechte Zustand der britischen Straßen im Hinterland sorgte dafür, dass wir unsere Reiseplanung nach bereits einem Tag umwerfen mussten. In Wales Wales war bis in die Neuzeit hinein nie ein integraler Bestandteil Britanniens: weder die Römer noch die Normannen kamen über Befestigungen vor allem an der Südküste hinaus. Nach Osten hin durch die kambrischen Berge geschützt (die dem Erdzeitalter seinen Namen gaben) und nach Westen hin sehr unwegsam jenseits schmaler Buchten, hat sich Wales neben seiner Sprache auch einen gewissen Nationalstolz bewahrt. Die Brücke über die Mündung des Severn führt direkt nach Wales. Interessant ist der eingelassene Verriegelungsbalken, der auf beiden Seiten verriegelt wird. Damit ist es unmöglich, die Verriegelung von außen zu öffnen, indem man sie anhebt oder verschiebt. Die Kürze des Riegels erhöht zusätzlich das Biegemoment. Dieses Tor hält auch einem Widder stand. Als wir auch am zweiten Tag in schlechtes Wetter gerieten, beschlossen wir, die Reise so zu verkürzen, dass wir auf den europäischen Radweg EV1 (den Atlantikküsten-Radweg) auswichen und nur den Süden Wales‘ abdecken würden. Damit entspannte sich die Reise natürlich erheblich – ohne dass sie weniger anstrengend wurde. So erreichten wir Wales von Osten kommend bei Chepstow und genossen eine der Spezialitäten des Landes bei gutem Wetter: Chepstow Castle mit dem ältesten erhaltenen hölzernen Burgtor Europas. Diese Burg, die an der Stelle einer hölzernen Befestigung auf einer Felsnadel oberhalb des Flusses Wye gebaut wurde, war im 12. Jahrhundert ein Meisterwerk an befestigungstechnischer Innovation. Sie einzunehmen war praktisch unmöglich mit den Belagerungswerkzeugen des Mittelalters, da die einzig angreifbare schmale Seite mit mächtigen Mauern und Wehrtürmen abgesichert war, mit der auch eine kleine Anzahl Verteidiger einer großen Zahl von Angreifern lange standhalten konnte. Ein Highend-Produkt der mittelalterlichen Kriegstechnik Europas mit zahlreichen Innovationen. Aber wie so viele Innovationen und Highend-Produkte haben auch Burgen nur eine begrenzte Haltbarkeit: mit der Benutzung von Kanonen und Mörsern waren auch die dicksten Mauern nicht mehr sicher. In diesem Punkt unterscheiden sich Burgen nicht von gigantischen Profanbauten der Gegenwart oder des Altertums wie Atomkraftwerke oder Aquädukte: die Wirtschaftlichkeit ihrer jeweilligen Nutzung hängt stark davon ab, wie lange sie ihren ursprünglichen Zweck erfüllen, ohne dass unvorhersehbare technische Innovationen sie unwirtschaftlich machen. So wie wir Strom nicht mehr erzeugen müssen, indem wir mit heißen Uranbrennstäben erst Wasser kochen, oder Pumpwerke und Leitungen keine kilometerlangen Wasserkanäle mehr erfordern, so führte auch die Entwicklung in der Militärtechnik und Kriegsführung die Burgen in eine Nische, die wir heute als Zeugnisse einer „dunklen“ Epoche bestaunen. Dabei waren Burgen alles andere als unzivilisiert und auch keinesfalls fernab praktischer physikalischer Gesetzmäßigkeiten gebaut worden… Die Route Ab Chepstow kamen wir auf den EV1, der in das britische Radwegenetz als „Route 4“ integriert ist und immer entlang der Süd- und Westküste der Halbinsel führt, um einerseits Sehenswürdigkeiten abzudecken und andererseits abseits der vielbefahrenen Straßen der Stressfaktor zu verringern. Diese Wegführung führte allerdings zu den frustrierenden Erkenntnissen, dass eine durchgehende Beschilderung noch keine Radinfrastruktur darstellt – und dass Großbritannien ein erhebliches Mobilitätsproblem hat: ohne Auto geht vor allem in Wales nichts, gar nichts. Wer keinen eigenen motorisierten Untersatz hat und nicht in einem Verkehrszentrum wie Swansea oder Cardiff wohnt, kommt ohne Nachbarschaftshilfe nicht einmal zum Arzt oder zum Einkaufen. Das stellt für den älteren Teil der Bevölkerung eine erhebliche Einbuße der Lebensqualität dar, über die auch eine wunderschöne Natur nicht hinwegtrösten kann. Wir vermieden auf dem Weg nach Westen die walisische Hauptstadt Cardiff und fuhren stattdessen nach Caerphilly, um uns ein anderes Highlight mittelalterlicher Burgbaukunst anzusehen: Statt auf einer Felsnase wie Chepstow oder Cilgerran hat man um die Caerphilly Castle einen gigantischen künstlichen See aufgestaut und in der Mitte die zweitgrößte Burg Großbritanniens nach Windsor Castle errichtet. Ein beeindruckender Bau, der Unsummen verschlungen hatte – und dann trotz mehrfacher Umbauten irgendwann nicht mehr als Burg, sondern nur noch als feuchte und klamme Behausung taugte, bis auch sie ersetzt wurde. Carphilly Castle mit der Sicherungsanlage des Wassergrabens Nachdem es zwei Tage lang viel geregnet hatte, erreichten wir am dritten Tag unseren anvisierten Zeltplatz in der Nähe von Swansea mit trockenen Rädern. Da die Wiesen aber durch den häufigen Regen schon seit Wochen so aufgeweicht waren, dass die Bauern nicht einmal ihre Kühe auf die Weide lassen konnten (da sie die Weiden ruiniert hätten), stellten wir das Zelt auf einem der weniger feuchten Plätzen unter Bäumen auf. Nach zwei Nächten in einer günstigen Travelodge tat es gut, wieder richtig zu zelten… Und das Wetter blieb uns gewogen, so dass wir am nächsten Tag Ferryside erreichten – nicht ohne noch einen Blick auf Kidwelly Castle zu werfen, das allerdings schon geschlossen hatte. Von Ferryside aus planten wir, mit der Fähre nach Llansteffan Castle überzusetzen. Leider aber war die Fähre außer Betrieb, so dass wir den langen Umweg über Carmarthen nehmen mussten, der uns gegen Abend nach Tenby an die Küste führte. Tenby ist ein walisisches Touristenzentrum mit sehr schönem Strand und vielen Einrichtungen, die dem Volk lautstarke Ablenkung versprechen – wir sahen zu, es so schnell als möglich hinter uns zu lassen. Dieser Teil Wales ist mitterweile sehr stark vom Tourismus geprägt, da sich – Auto vorausgesetzt – hier günstig wohnen lässt und alle walisischen Sehenswürdigkeiten und Ortschaften schnell zu erreichen sind. Pembroke Straßenzug in Pembroke in einem der seltenen Momente ohne Durchgangsverkehr. Das letzte Highlight der Burgbaukunst erreichten wir dann am nächsten Tag in Pembroke und dem passend benannten Pembroke Castle. Auch diese Burg wurde auf einem Felsen als steinerne Befestigung errichtet, wie es die normannischen Besatzer meist taten, um die Herrschaft über das Land zu sichern. Die Burgen dienten dabei sowohl als Verwaltungszentren als auch als Rückzugsorte des normannischen Adels, wenn sich die einheimische Bevölkerung aufzulehnen drohte. Während man im flacheren England große künstliche Hügel (Motten) aufschütten musste, konnte man sich dies aufgrund der geografischen Besonderheiten in Wales sparen – vor allem, da diese Felsnasen oft bereits von den Römern genutzt wurden oder von den früheren einheimischen Landesherren, die es allerdings „nur“ bis zu Erdwällen und Holzpalisaden brachten. Die neuen normannischen Herrscher brachten ihre überlegene Baukunst aus Frankreich mit und „zementierten“ ihren Führungsanspuch mit weitaus kostspieligeren und langlebigeren Befestigungen aus Steinen. Pembroke Castle, mit einer riesigen Höhle unterhalb der Burg zur Lagerung von Lebensmitteln mitten im Steilhang und damit für Belagerer unerreichbar. Ab Pembroke nahmen wir den Brunel Trail nordwärts (Teil der Atlankikküsten-Route) und kamen recht bald in Broadhaven an, dem Zwischenstopp auf dem Weg zum Grab des Nationalheiligen in St. Davids. In der Zwischenzeit hatten aufgrund der ständigen Anstiege und Abfahrten auf schlechten Straße (wo man es nicht einfach rollen lassen kann) die Bremsbeläge doch arg gelitten. Da mein Rad nur über zwei Kettenblätter verfügt, musste ich an Steigungen über ca. 15% schieben – was in diesem Teil von Wales sehr oft der Fall war. Streckenweise kamen wir daher pro Tag nicht unter 1000 Höhenmetern davon – was natürlich Auswirkungen auf die Tagesetappen und die Dauer hatte, denn das senkt die tägliche Durchschnittsgeschwindigkeit auf gut 13 km/h. Und das wiederum hat Auswirkungen auf die Planung der weiteren Etappen. Bis St. Davids am nächsten Tag schafften wir es noch relativ trocken, dann aber setzte der englische Drizzle ein, der ab 17:00 in den ausdauernden Regen überging, so dass wir wieder eine feste Behausung aufsuchten. Diesmal allerdings gab es keine einfache touristische Unterkunft, diesmal stand ein Landhaus namens Llwyngwair Manor auf dem Programm: ein klassischer Landsitz, dessen sich größte Mühe geben, einen Hauch von britischem Luxus auf dem Land zu vermitteln, aber ebenso unter fehlendem Tourismus aufgrund der Wetterabhängigkeit leiden wie der gesamte Fremdenverkehr in Wales. Rückfahrt Obwohl wir laut Ursprungsplanung noch weiter fahren wollten, stellten wir ab Newport auf Rückfahrt um, denn die angedachte Vorstellung, zur Not ein paar Etappen mit der Bahn zu überbrücken, stellte sich als undurchführbar heraus: in diesem Teil von Wales gibt es keine Bahn. Der nächste Anschluss liegt im Süden in Carmarthen, also über die Hügel. Den mussten wir erreichen, um von dort bis Worcester in England zu fahren, damit wir rechtzeitig wieder die Heimreise über London antreten konnten. Diesen Tourabschnitt planten wir daher neu über Cardigan und Newcastle Emlyn.1 Trotz der Umstellung wollten wir nicht auf die Sehenswürdigkeiten Cilgerran Castle und vor allem die Grabstätte Pentre Ifan verzichten – und irgendwie schloss sich damit auch ein Kreis, denn mit Menhiren in Avesbury hatte die Reise bekommen und mit bronzezeitlichen Gräbern endete sie auch. So kamen wir dann ein zweites Mal in Carmarthen an, was die Stadt zwar nicht schöner machte, uns aber um eine weitere Erfahrung reicher: Bahnfahren in Großbritannien ist erstaunlich unkompliziert und entspannt. Oder, wie es uns ein Einheimischer empfahl: „Kauf Dir eine Karte und stell‘ dich mit dem Rad an die Bahn, als ob sie dir gehört.“ Bildergalerie Auf ein Bild tippen oder klicken startet die Diashow. Die gesamte Reise hatten wir vor Antritt mit Komoot geplant und geplant und mussten unterwegs nur neu justieren. ↩Teilen mit:MastodonWhatsAppE‑MailBlueskyMehrDruckenLinkedInTelegramPinterestGefällt mir:Gefällt mir Wird geladen … Radreise EuropaFahrrad
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