La Loire à Vélo 15.08.200810.10.2023 Man muss nicht unbedingt Individualist sein, um eine Radreise zu machen. Eine gute Planung und Organisation vorausgesetzt, sowie ausreichend Improvisation kann man auch mit Kindern eine mehrtägige Fahrradreise unternehmen. Zum Beispiel an der Loire. Nachdem wir im letzten Jahr den Donauradweg von Passau nach Wien mit den Kindern abgefahren waren, beschlossen wir, es in diesem Jahr mit der Loire zu versuchen, zählt doch die Tour aufgrund der zahlreichen Schlösser zu den schönsten Radreisewegen überhaupt. Da wir mit Zelt und Kocher, Schlafsäcken und Isomatten recht voll bepackt waren, kam nur eine Anreise per Bahn in Frage – alles andere wäre unter der Ehre. Nachfolgend ein Auszug aus meinem Tagebuch; vielleicht erwägt auch der ein oder andere Leser, sich mal an einer solchen Tour zu versuchen. Sie stellt sportlich kaum besondere Anforderungen an die Kondition, wohl aber an die Organisation. 2.8. Um nicht in den Packstress zu geraten, wollen wir mit dem Nachtzug erst am Samstag gegen 21:00 h ab Münchens Hauptbahnhof abfahren, damit wir dann am Morgen so um 6:30 h in Paris, Gare de l‘Est ankommen. Von dort geht es dann am Morgen quer durch Paris zum Gare Austerlitz, der uns nach Orléans bringen soll, dem Ausgangspunkt unserer Tour. Falls möglich, wollen wir mit den Kindern bis zum Atlantik kommen – kurze Überbrückungen mit der Bahn sind dazu allerdings unumgänglich. 3.8. Der Nachtzug war grässlich, denn wir hatten vier Plätze in einem ehemaligen Interregio-Wagen, was bedeutete, dass man die gegenüber liegenden Sitze nicht zusammen schieben kann, um sich eine Liege zu bauen, sondern im Sitzen schlafen muss. Wir legten daher die Isomatte auf den Boden, auf der Jonas mit seinen kurzen Beinchen relativ bequem Platz fand und schlafen konnte, zwei Sitzplätze blieben für Johanna, die sich zusammen rollen musste, und die beiden anderen gegenüber liegenden Sitze blieben für Corinna und mich. Sitzend schlafen. Die Nacht ging auch irgendwie rum… Sonntagmorgens ist Paris noch recht tot, so dass wir stressfrei bis Gare Austerlitz kamen und dort die ersten Croissants im Stehen frühstückten. Corinna besorgte mit den Kurzen die Fahrkarten bis Meung-sur-Loire, eine kleine Station bei Orléans, von der aus wir starten wollten. Dadurch konnten wir Orléans und die Stadt vermeiden, wir wollten sie eventuell auf dem Rückweg besuchen. Ein Tandem ist ja schon in deutschen Zügen eine sperrige Angelegenheit, und das war es auf der Fahrt nach Meung auch, vor allem da streckenweise doch recht viele Radler mit dem Rad unterwegs sind, um kurze Tagestouren abzukürzen. In Meung angekommen wurde das Wetter sehr trübe und es begann zu nieseln. Unser erstes Ziel war Muide-sur-Loire, eine kleine Stadt an der Loire mit Campingplatz. Muide liegt in der Nähe von Chambord. In Muide war es abends dann aber drückend schwül. 4.8. Und dann kam die Revanche für das schwüle Wetter: In der Nacht begann es richtig zu regnen. Während es vorher immer mal wieder nur genieselt hatte, pladderte jetzt der Regen auf die Zelte und vermieste uns das Frühstück, denn dummerweise ließ er morgens nicht nach, wie es sich für einen ordentlichen Regen gehört. Wir suchten daher Unterschlupf unter dem Dach des Campingplatzes und frühstückten dort gemeinsam mit anderen Campern, die noch weniger auf schlechtes Wetter eingestellt waren. Corinna hatte am Morgen noch schnell Baguette und Milch vom Supermarkt geholt und wunderte sich über die Lebensmittelpreise dort, so wie sie sich abends über die niedrigen Campingplatzgebühren gewundert hatte. Es sind einfach andere Prioritäten. Ich verstehe jetzt den Ausspruch besser: „Die Deutschen kaufen die teuersten Küchen, aber essen den billigsten Fraß!“ Ich dachte immer, das sei ein Vorurteil über die deutschen Konsumgewohnheiten, für manche Sache Unsummen auszugeben, aber bei wichtigen Dingen wie dem Essen furchtbar knausrig zu sein. Es ist kein Vorurteil, sondern Fakt. Milch kostet in Frankreich nämlich fast das Doppelte. Nach dem Frühstück packten wir die Zelte nass ein, was hätten wir auch Anderes tun sollen? Der Wetterbericht sagte zumindest nachlassende Schauer für den Nachmittag vorher. Und da wir erst um halb Zwölf auf den Rädern saßen, waren die Schauer auch tatsächlich vorüber. Wir radelten nach Chambord, dem wohl beeindruckendsten Schloss der Loire. Chambord ist ein Protzschloss. Im 16. Jahrhundert erbaut, ist es ein Meisterwerk der architektonischen Symmetrie und Berechnung. Es nimmt den Absolutismus vorweg. Und es hat jedes menschliche Maß verloren. Alles daran ist riesig. Jonas gefiel vor allem die doppelte Wendeltreppe, bei der auch Leonardo da Vinci seine planerischen Ideen im Spiel hatte. Sie ist eine Treppe mit zwei Aufgängen, die ineinander verschraubt sind. Johanna fand dagegen die alten Gobelins und Bilder sehr spannend. Unser heutiges Ziel ist Chaumont und der dortige Campingplatz. Dort gibt nämlich es eine echte Burg zu sehen. 5.8. Die Loire ist sehr seicht. Daher konnte sie während der Industrialisierung auch nicht als Verkehrsweg für große Transport genutzt werden. Man hatte sich bis zur Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf speziell konstruierte Loire-Boote verlassen, die mit flachem Boden ausgerüstet manchmal nur eine einzige Tour fuhren, um danach zerlegt und verkauft zu werden. Bei Hochwasser tritt die Loire sofort sehr weiträumig über die Ufer und überflutet die umliegenden Ackerflächen und die Auwälder. Die lebendige Flusslandschaft hat jedoch nicht nur einen großen umweltschutztechnischen Vorteil, sondern auch einen touristischen: Gerade wegen der relativ unberührten Flusslandschaft ist die Loire einer der schönsten Radwege Europas und der „Garten Frankreichs“. Die Landschaft atmet den gleichen mittelalterlichen Charme wie die Gässchen der anrainenden Ortschaften. Für Autofahrer ist das manchmal allerdings vertrackt: Wer hier mit einem dicken deutschen Schlitten oder Anhänger herkommt, bleibt oft stecken und muss die Städtchen weiträumig umfahren. Des einen Leid ist aber des anderen Freud: Wir Radler haben mehr Platz und mehr Genuss. Überhaupt verhalten sich französische Autofahrer (vielleicht wegen des recht großen Radaufkommens eher gewohnt) sehr rücksichtsvoll gegenüber Radlern. Wir wurden immer weiträumig umfahren (was auch an unseren etwas ungewöhnlichen Fahrzeugen gelegen haben mag, siehe „Technik“ rechts). Mit vollem Gepäck fuhren wir vom Zeltplatz am Ufer der Loire zum nahen Eingang der Burg von Chaumont. Da es sich bei dieser Anlage im Kern tatsächlich immer schon um eine wehrtechnische Anlage handelte, ist der Begriff „Schloss“ eigentlich unangebracht. Es ist eine echte Burg, sehr zur Freude von Jonas. Sie hat eine richtige Zugbrücke mit funktionierendem Mechanismus, auch wenn dieser mittlerweile durch einen Motor unterstützt wird. Er war daher auch hochmotiviert, die lange Rampe zum Burgberg hinaufzugehen. Technik Als Räder benutzten wir mein T300 Trekkingrad von vsf mit einem Hase-Trets und ein umgebautes „Twin Power“-Tandem von specialbikes.at, auf dem Johanna hinten per Stoker Kid mitfahren kann. Das Tandem kann im Lieferzustand als billig eingestuft werden, daher empfiehlt es sich, zusätzlich Magura-Hydraulikbremsen anzubringen und einen stabilen Gepäckträger, Lowrider und ordentliche Sättel. Auf die mitgelieferten Scheibenbremsen kann man getrost verzichten. Aber in der Preisklasse darf man keine Wunderwerke erwarten… Bereits im 8. Jahrhundert hatte man auf den Felsen über der Loire eine Burg gesetzt, um die umliegenden Liegenschaften gegen die Ansprüche der benachbarten Grafschaften abzusichern. Nachdem die Burg dennoch mehrfach den Besitzer gewechselt hatte und geschleift wurde, entstand im 12. Jahrhundert die eigentliche Burg, deren Kern dann im 16. Jahrhundert zu einem Schloss umgebaut wurde. Dabei wurde in erster Linie der Garten angelegt – für mehr war glücklicherweise kein Geld übrig. Es sind immer noch die selben alten dicken und düsteren Mauern, die man von mittelalterlichen Burgen kennt. Daher war es Katharina von Medici auch eine diebische Freude, ihre Nebenbuhlerin nach dem Tod ihres Mannes, König Heinrich II., aus dem eigens für die Dame gebauten Lustschlösschen Chenonceau in das düstere Chaumont bringen zu lassen. Katharina hatte zwar viel Geld in die Ehe mitgebracht, er hatte es aber zu seinen Lebzeiten für Madame de Poitiers verprasst, der er wohl keinen Wunsch abschlagen konnte. Zur Ehrenrettung der Diane de Poitiers sei gesagt, dass sie das tat, was jede Mätresse tun würde: ihre Schönheit gegen die Ehefrau ausspielen. Und den Bildern nach zu urteilen, verfügte Katharina von Medici als Familienmitglied der wohl einflussreichsten Familie des europäischen Mittelalters über viel Geld und Macht, auch über Intelligenz und Scharfsinn, jedoch nicht über Schönheit. Das Ergebnis dieser Bautätigkeit war eine völlige Verarmung der Bevölkerung, da man auf die irrwitzigsten Steuern und Abgaben verfiel, um die geplünderte Staatskasse zu retten. Überhaupt hat man den Eindruck, dass Frankreich, das ja erst im 16. Jahrhundert zu seiner jetzigen Größe herangewachsen war, auch deswegen die aufkommende Industrialisierung im 18. Jahrhundert deswegen verschlief, weil seine Könige die Wirtschaftskraft des Landes verprasst hatten. Geld, das den Manufakturen und Kleinbetrieben, dem Handwerk bitter fehlten. Die Loire ist und war kein Verkehrsfluss. Und mit der Eisenbahn im vorletzten Jahrhundert wurde sie zunehmend abgeschnitten. Das ist ein touristisches Glück. Die Loire ist das geschichtliche Herz Frankreichs, von hier regierten im Mittelalter die Könige, die ihre Residenz zwischen Amboise und Orléans, zwischen Tours und Nantes entlang der Lore verschoben. Hier wurde wichtige Ehen geschlossen und auch annulliert, hier trafen sich bereits die Könige der Ost- und Westgoten, Alarich und Chlodwig. Letzteres verkündete in Tours sogar den Übertritt seiner Familie zum Christentum, womit die kirchlich-religiöse Geschichte des Abendlandes eine entscheidende Wende nahm. Die Entscheidung war vermutlich wichtiger für Europa las alle Feldzüge und Schlachten zusammen. Sie hat unsere Kultur maßgebend geprägt. weit mehr als die Verschiebung irgendwelcher obskurer Territorial- und Besitzansprüche. Nach Chaumont radelten wir Richtung Amboise, wobei wir den offiziellen Radweg über die Hügel mieden, denn es war sehr heiß und die offizielle Radwegsführung doch recht zweckfrei. darüber hinaus sind die kleinen Straßen entlang der Loire nicht sehr befahren. Die Radroute hätte uns als zermürbendes Auf und Ab durch die Weinberge der Touraine geführt. Das wollten wir den müden Kindern nicht antun. Die Tage sind doch recht anstrengend für die Kurzen, voller Eindrücke und Anstrengungen. Gerade bei Kindern merke ich, dass aus der „Sattelperspektive“ die Anzahl der Eindrücke um ein Vielfaches höher ist, als wenn man mit dem Auto vorbei rauscht. Das ermüdet ungleich mehr, ungeachtet der körperlichen Beanspruchung. Nachmittags kamen wir in Amboise an und zelteten auf dem Campingplatz fast mitten in der Stadt auf der Insel der Loire. Wir stellten die Räder ab und die Zelte auf. Jonas wollte zwar lieber ins Freibad, das man vom Zeltplatz aus hören konnte, aber Johanna und Corinna konnten ihn umstimmen, da es in Chenonceau nicht nur ein Wasserschloss, sondern auch ein Eis geben sollte. Mit leeren Rädern packte wir den Weg hinüber zum Cher nach Chenonceau (16 km über die Hügel). Ich war wieder überrascht, mit welcher Aufmerksamkeit und mit welchem Interesse die zwei Kurzen durch die Räume liefen und Bilder betrachteten, stehen blieben und Fragen stellten, Wendeltreppen hinauf- und wieder hinunter stolperten und versuchten, ihre kleinen Köpfchen mit Neuem zu füllen, das sie in den nächsten Tagen im Zelt und auf dem Rad dann bewältigten. Die Rückfahrt von Chenonceau war zwar flotter als erwartet, aber da wir erst um 19 h in Amboise ankamen, beschlossen wir ob der klammen Vorräte, dort in der Altstadt essen zu gehen. Es war zwar ziemlich touristisch und auch nicht besonders gut, aber der Hunger zwang es rein… 6.8. Der letzte Tag war viel zu viel gewesen für die Kinder. Wir beschlossen daher beim Frühstück im Familienrat eine Planänderung. Wir verzichteten auf den Besuch der Gärten von Villandry und schauen uns lieber das Schloss von Amboise an, gehen dann am frühen Nachmittag ins nahe Freibad und radeln am späten Nachmittag die 25 km nach Vouvray kurz vor Tours. Das Schloss von Amboise ist immer noch sehr beeindruckend, obwohl der „Bürgerkönig“ Louis-Philippe im 19. Jhd die meisten Gebäude hatte schleifen lassen. Zum Einen, um Platz für einen Garten zu haben direkt am Schloss über der Loire, zum Anderen, weil ihm das Geld fehlte, die mittlerweile halb verfallenen Gemäuer aus dem 16. Jhd wieder zu restaurieren. Amboise blickt auf eine lange und sehr bedeutende Geschichte als Residenzstadt zurück, in der wichtige Entscheidungen getroffen wurde, die die Geschichte des Abendlandes nachhaltig prägten. Wohl auch deshalb konnte es sich Louis-Philippe nicht erlauben, die Gemäuer komplett zu schleifen. Hier atmet jeder Stein Geschichte. Hier stand schon in keltischer Zeit eine befestigte Anlage, die zwar mehrfach en Besitzer wechselte, aber dennoch ständig ausgebaut wurde, bis sie im 16. Jhd unter der Bauwut der Valois zu ihrer ganzen Pracht ausgebaut wurde. Hier wohnte bis zu seinem Tod auch Leonardo da Vinci, den König Franz I. nach Amboise geholt hatte. Sein Grab liegt auf dem Burgberg in einer kleinen Kapelle, die auch den Abriss überlebt hatte. Ausrüstung: Zelt Obwohl wir mit dem Gedanken gespielt hatten, uns langfristig ein Familienzelt zuzulegen, weil es doch recht praktisch sein kann, bei Regen gemeinsam unter einem Vordach zu sitzen, haben wir uns dagegen entschieden: Familienzelte sind sperrig, gerade für Radfahrer, die das Ding ja auch täglich auf- und abbauen müssen. Und sie sind in der Aufstellung unhandlicher, weil man weniger flexibel ist. Man benötigt eine wesentlich größere Grundfläche als bei zwei unabhängigen Zelten, die nur für 2 – 3 Leute jeweils Platz bieten. Wer jeden Tag den Zeltplatz wechselt, sollte lieber mehrere kleine Zelte benutzen. Der Komfortverlust wird durch die Flexibilität und den einfacheren Transport mehr als wettgemacht. Der Tag war wieder sehr heiß, so dass wir alle bedauerten, aus der Kühle der mächtigen Befestigungsmauern wieder auf die Straße zu müssen. Corinna, unsere Lotsin, nahm auch diesmal wieder die kleinen Nebenstraßen statt der offiziellen Radroute. Um halb sieben waren wir in Vouvray auf dem Zeltplatz an der lauschigen Cisse. Leider hatten alle Läden und Degoustier-Salons schon geschlossen. Ich hätte gerne mal einen echten Wein aus der Gegend probiert. 7.8. Und in der Nacht brach ein heftiges Gewitter über uns herein. Direkt über dem Zeltplatz krachte der Donner, dass selbst Jonas – der einen sehr gesunden Schlaf hat – davon wach wurde und Johanna leise „Mama!“ rief. Dann war es auch schon wieder vorbei. Es regnete auch morgens noch, hörte allerdings rasch auf und der Regen bog auf Jonas’ Wunsch hin vor dem Zeltplatz ab. Wir mussten nur leicht feuchte Zelte einpacken. Wir fuhren nach Tours, wo wir uns die Kathedrale ansehen und dann den Nahverkehrszug nach Nantes nehmen wollten. Um noch ans Meer zu kommen, mussten wir die Strecke abkürzen. Mit Kindern sind solche Entfernungen nicht zu bewältigen in der knappen Zeit, die wir nur hatten. Diesmal führte uns die Fahrt durch die Weinbaugebiete der Touraine über sehr heftige Abfahrten und Anstiege, bei denen die Mädels das Tandem sogar einmal schieben mussten (15% sind bei voller Beladung nicht zu fahren, da das Rad im Wiegetritt sehr schwammig fährt und dadurch nicht mehr zu lenken ist). Das letzte Stück nach Tours fuhren wir aber dann doch auf der recht wenig befahrenen Nationalstraße. Tours war im Mittelalter neben Jerusalem und Rom der meist besuchte Pilgerort Europas. Hier lebt im 4. Jhd der heilige Martin, hier in der Nähe wurde der Vormarsch arabischer Heere im 8. Jhd in der Schlacht von Tours und Poitiers gestoppt, hier residierten die französischen Könige. Aber das Besondere an Tours sind sein zwei Altstädte. Wo sich sonst eine Stadt im Mittelalter um einen Stadtkern herum ausdehnte, hatte Tours derer zwei: Ursprünglich eine römische Siedlung, lag vor den Toren der Stadt der alte Friedhof mit dem Grab des heiligen Martin. Nach der Offenlassung der Friedhofs entstand um die Kapelle und später Kirche herum eine eigene kleine Siedlung, die bald an die Grenzen der Stadt stieß. Die Kathedrale Saint-Gatiens (der erste Bischof von Tours) ist beeindruckend, ein gotischer Bau, der zu Beginn des 16. Jhds fertig wurde, als es die Gotik schon fast gar nicht mehr gab. Da die Kirchenväter während der 300-jährigen Bauzeit aber immer drauf bestanden, die bereits vorhandene Bausubstanz zu nutzen (vermutlich schon auf den Resten der keltischen Kultstätte), waren die Baumeister in ihren Möglichkeiten sehr eingeschränkt. Sie ist daher nicht unbedingt schön und schon gar nicht „aus einem Guss“, aber ein bedeutendes Beispiel der Umsetzung christlich-mittelalterlicher Zahlenmystik. Die Kinder waren auch sehr angetan von dem Bau, Johanna von der Architektur und der künstlerischen Ausgestaltung, Jonas mehr von den Baugerüsten und den Renovierungsarbeiten (der Smogfraß am weichen Loire-Tuff ist deutlich zu erkennen), denn das Portal im „Flamboyant“-Stil ist eine Dauerbaustelle … Leider regnete es während unserer Besuchs der Kathedrale so stark, dass wir beschlossen, direkt zum Bahnhof zu fahren, um eine Fahrkarte zu erhalten. Wir hätten gerne noch einen Abstecher zur Kathedrale des Heiligen Martin gemacht, dem Schutzpatron Frankreichs. Wir verpassten trotzdem den Zug nach Nantes und kamen erst gegen 18 Uhr in Nantes an. Da es dort keinen uns bekannten Zeltplatz gibt, suchten wir die örtliche Jugendherberge ganz in der Nähe auf. Dort erhielten wir ein Familienzimmer und eine Mitgliedschaft für ein Jahr. So konnten wir am Abend auf einer richtigen Herdplatte in der Gemeinschaftsküche unsere Nudeln kochen und an einem richtigen Tisch sitzen. Ist ja auch was. 8.8. Sogar ein Frühstück gehört zur Übernachtung in einer Jugendherberge. Selbst wenn man nicht von einer ordentlichen Grundlage für Radreisende sprechen kann, hatte das angebotene Frühstück den Vorteil, dass wir nicht erst zusammenpacken und aufwaschen mussten. Wir konnten direkt aufbrechen. Von Nantes radelten wir zunächst ein gutes Stück durch das Hafengebiet am Nordufer der Loire bis zur Fähre, die uns auf die andere Seite und damit einer schöneren Strecke führte. Die Tour durch das Hafengebiet bot das wirkliche Kontrastprogramm zur Zeitlosigkeit der Weinhänge und dem mittelalterlichen Charme der kleinen Dörfer. Hier wird einem anderen Gott gehuldigt, einem Gott, vor dem es nur Menschen gibt, die ihm ihre Gesundheit opfern, ihr Leben und Seele, um der Anerkennung willen oder einem schlichten Auskommen. Hier gibt es keinen Stolz, keine Würde und keine Liebe, hier gibt es Maloche, Geld und Anpassung.Die Straßen waren natürlich nur mäßig, da sie oft von den schweren Lastwagen befahren werden, aber sie brachten uns zur Fähre, die uns kostenlos ans südliche Ufer bringen sollte. Drüben angekommen, genehmigten wir uns erstmal einen Kaffee und Kakao, bevor wir dann gleich zur Mittagsbrotzeit übergingen. Da direkt an der Anlegestelle auch eine kleine Boulangerie (Bäckerei) war, erstanden wir ein paar frische Baguettes. Baguette ist immer dann lecker, wenn man lange kein Weißbrot gegessen hat und es frisch aus dem Ofen kommt. Nach etwa zwei Stunden beginnt sich der Geschmack dem tatsächlichen Nährwert anzunähern. Und da es fast nichts anderes gibt im Land der Franken, hingen mir die Baguettes nach einer Woche so dermaßen zum Hals raus, dass ich zu träumen begann von einem Roggenbrot. Kochen Zehn lange Jahre hatte uns unser Trangia-Spirituskocher gute Dienste geleistet. Ob in Kanada und den USA, wo es besonders schwierig ist, an Spiritus zu kommen, da die Apotheker dort glauben, dass man das Zeug säuft, oder in Japan auf Hokkaido: der Kocher musste mit. Für zwei Leute mag das gehen, aber bei vier hungrigen Radlern ist es nicht mehr machbar, in einer vernünftigen Zeit ausreichend Nudeln oder Schrot zu kochen. So haben wir uns einen Benzinkocher von MSR zugelegt. Auch wenn ich kein Freund der Verschwendung fossiler Brennstoffe bin: Das Ding heizt richtig. Und es ist auch recht gut zu verstauen – das hatte den Trangia immer ausgezeichnet. Mit einem 2,5L-Topf sind wir bei normalem Verbrauch 9 Tage mit einer Brennstoffflasche ausgekommen. Leider lässt sich der Benzinkocher nicht so gut dosieren. Es folgte ein langer und fast gerader Radweg entlang des Kanals. Corinna pflückte unterwegs sogar ein paar der ersten reifen Brombeeren. Recht unspektakulär fanden wir in Palmbœuf den Zeltplatz, der wider Erwarten trotz der Nähe zum Meer (Palmbœuf ist ein Wohngebiet, in dem mindestens die Hälfte der Häuser Ferienhäuser sind, die die meiste Zeit des Jahres leer stehen) ziemlich leer war. 9.8. Wie wir in der Nacht allerdings feststellen mussten, war der Zeltplatz nicht nur leer, sondern auch laut, denn neben uns begann eine Gruppe 20-jähriger Franzosen mitten in der Nacht (2:30h) die Ausgangsleistung des Ghettoblasters auszutesten, was allerdings nicht den Zeltplatzwart auf den Plan rief, sondern in einer Prügelei unter Besoffenen eine Stunde später endete. Glücklicherweise haben die Kinder einen sehr guten Schlaf, wir aber lagen die halbe Nacht wach – und Wache. Ich hatte die Befürchtung, dass die Jungs in betrunkenem Zustand das Randalieren anfangen und die umliegenden Zelte samt Insassen in ihre Auseinandersetzungen einbeziehen könnten. Seltsamerweise schien das aber Niemanden zu kümmern. Es geschah aber nichts dergleichen, außer dass wir Großen am nächsten Morgen entsprechend müde waren. Mit anderen Worten: der Zeltplatz des Ortes verwahrlost. Nicht zu empfehlen. Nach dem Frühstück ging es dann auf die letzte Etappe nach St. Nazaire am Atlantik. Der im Reiseführer beschriebene und auch so ausgeschilderte Radweg war aber ein Feldweg, der am besten mit unbeladenen Mountainbikes befahren werden sollte. Für uns absolut ungeeignet, weshalb wir auf die Straße auswichen. Wir mussten über die Pont St. Nazaire, um wieder auf die Nordseite der Loire zu gelangen. Die Brücke spannt sich mehr als 3 km in einem hohen Bogen über die Mündung der nun weit sich öffnenden Loire. Sie ist die einzige Verkehrsverbindung über die Loire. Sie darf zwar von Rädern befahren werden, was aber angesichts der Tatsache, dass sich auf der sehr stark befahrenen Brücke die Radler mit den Autos eine Spur teilen müssen, bei uns für einen Anflug von Panik sorgte. Da wir mit Trets und Gepäck bzw. Tandem selbst recht sperrig waren und mit den vom Verkehrsamt zugedachten 60 cm Randstreifen nicht auskamen, blockierten wir zeitweilig den gesamten Verkehr. Hinauf zum Brückenbogen, ein Anstieg von 60 Metern, läuft der Verkehr auf beiden Seiten zweispurig, hinunter dann jeweils in einer Spur. Bei einer Steigung von schätzungsweise 8 % bekam Corinna auf der Abfahrt in Armweite der vorbeifahrenden Autos einen Krampf in den Armen, da ein einziger Fahrfehler fatal gewesen wäre. Johanna verhielt sich mustergültig und verhielt sich still, um keine zusätzlichen Schlenker zu verursachen. Aber was in Deutschland für Hupkonzerte und wüste Beschimpfungen gesorgt hätte, bewirkte in Frankreich nur aufmunternde Anfeuerungsrufe. Man rollte neben uns und rief uns in dem ohrenbetäubenden Verkehrslärm Glückwünsche zu und gab uns Durchhalteparolen mit. Ils sont fous, les Français. Wir kamen alle wohlbehalten im Hafengebiet von St. Nazaire an. Der Hafen war einer der größten Überseehäfen Frankreichs im letzten Jahrhundert, hier hatten die deutsche Besatzungstruppen einen großen U‑Boot-Hafen im Hafenbecken errichtet, um von hier die Frachtschiffe der Alliierten im Nordatlantik zu versenken. Dieser U‑Boot-Hafen war aus solchen Unmengen an Beton und Stahl gegossen worden, dass er auch heute noch fast unbeschädigt steht. Während hier im Zweiten Weltkrieg die Stahlsärge ihre todbringende Fracht aufnahmen, werden in den Lagerhallen heute Konzerte aufgeführt. Und ein U‑Boot-Museum gibt es auch, das wir unseren Kindern nicht vorenthalten wollten. Immer noch der 9.8. Direkt gegenüber der alten U‑Boot-Schleuse liegt an den alten Docks fest angeschraubt die „Espadon“ ein ausgemustertes französisches U‑Boot der Narval-Klasse, das zu einem Museum umgebaut wurde, indem man in das Deck zwei Öffnungen geschnitten hat, durch die man über eine Leiter in das Innere des Schiffes unter Wasser gelangt. Wer einmal in den Bavaria-Filmstudios in München durch die Bootsattrappe des Films „Das Boot“ geführt wurde, bemerkt die Ähnlichkeiten und kann sich auch die beklemmende Stimmung und die Geräusche und Gerüche vorstellen, die uns dort empfingen. Wir hatten dem Besuch dieses Fahrzeugs keine weitere Bedeutung zugemessen. Erst an der Reaktion unserer Kinder und dem Gemisch aus Faszination und Abscheu erkannten wir die Eindrücklichkeit der Erfahrung. Und auch die Verdrängungsmechanismen von uns Erwachsenen, die einer solchen Flut an Emotionen ihre Ratio entgegensetzen und abwägend die Gefahren und Möglichkeiten beurteilen wollen. Wir konnten es nicht. Ein U‑Boot ist trotz seines Einsatzes für die Tiefseeforschung in erster Linie eine hochspezialisierte Waffe, darauf ausgerichtet, möglichst viele Menschen zu töten. Und das ist keine abstrakte Darstellung; an Bord eines solchen Schiffes spürt man das durch die Poren. Und auch für die Kinder war es wichtig zu sehen, was Menschen sich antun können, wenn die latente Aggression kanalisiert, organisiert und fokussiert wird. Wir sind im Frieden aufgewachsen. Ich konnte noch mit meinem Großvater über seine Erfahrungen im Krieg reden, meine Kinder können es nicht mehr. Aber zu ahnen, wie es „auf der dunklen Seite“ aussehen kann, das sollte man ihnen nahebringen. Auch um ihnen begreiflich zu machen, welche Gnade es bedeutet, im Frieden leben zu dürfen. Hinter St. Nazaire benutzten wir die Küstenstrecke nach Pornichet, wo wir die Zelte aufschlagen wollten. Küstenstrecke entlang des Atlantiks bedeutete, immer an der (bebauten) Küste entlang Hügel hinauf- und hinunter zu radeln. Der erste Zeltplatz „Bel Air“, den wir fanden, lag zwar nahe am Meer, hatte aber glücklicherweise keinen Platz mehr für uns (zumindest stand das so am Eingang). Glücklicherweise deshalb, weil dort der Bär tanzte. Es war Samstag Abend und halb Frankreich macht am Atlantik Ferien. Ausgeschlafen wird dort vermutlich erst wieder zu Hause … Wir fanden dann einen wesentlich lauschigeren Zeltplatz (Les Loriettes) oberhalb der Küstenbesiedlung, wo wir die Zelte unter Bäumen aufstellten und uns auf eine ruhige Nacht freuten. 10.8. Diesen Tag vor der Rückfahrt wollten wir den Kindern schenken, denn ein Strandurlaub ist so normalerweise nicht unsere Sache. Die Kurzen hatten bis hierher so tapfer und klaglos durchgehalten, hatten ein Gewitter im Zelt erlabt, Schlösser und Kirchen besichtigt, hatten bei teilweise unangenehmen Gegenwind tüchtig mitgestrampelt, die Zelte mit aufgebaut und sich von trockenem Baguette ernährt, wenn unterwegs der Hunger zwickte. Vor allem Jonas war am Ende seiner Kräfte mit viereinhalb Jahren. Und auch Johanna brauchte dringend eine Pause. Heute bauten wir Burgen und sammelten Muscheln. Leider nieselte es am Morgen leicht, so dass wir im Zelt frühstücken mussten. Aber immerhin gab es frisches Baguette, denn der Bäcker beliefert in der Saison jeden Morgen die Camper. Am späten Vormittag ließ der Sprühregen nach und wir gingen zum Strand hinunter. Während Johanna und ich über die Klippen kletterten und nach schönen Muscheln Ausschau hielten, begannen Corinna und Jonas mit dem Burgenbau, den wir im Laufe des Tages soweit verfeinert hatten, dass wir uns an eine Großanlage wagten, die einen ganzen Felsen bedeckte. Und zwischendurch mussten wir auch ins Wasser. Leider ist der Wind dort so durchdringend, dass man schnell abkühlt. Am frühen Nachmittag tranken wir alle Kaffee und Kakao, weil wir durch das Wasser und den Wind ziemlich durchgefroren waren. Dann aber kam die Sonne zum Vorschein und Johanna ließ es sich nicht nehmen, wieder ins Wasser zu gehen. Literatur Unser Hauptreisebegleiter war das Bikeline-Taschenbuch „Loire-Radweg“, in dem leider nicht alle Campingplätze eingezeichnet sind. Eine anderes Buch dieser Reihe hatte uns letztes Jahr recht gute Dienste entlang der Donau geleistet. Um aber der kulturellen und geschichtlichen Dimension der Loire gerecht zu werden, musste natürlich noch ein Dumont-Reiseführer „Tal der Loire“ ins Gepäck. Corinna und ich hatten die Stationen anhand des Radwegeführers bereits im Vorfeld errechnet, um die Etappe kindgerecht bei maximal 50 km zu halten und Zeit für die Attraktionen entlang des Wegs zu haben. Abends zogen wir dann alle ein klein wenig blessiert zum Zelt zurück: Johanna und Corinna hatten sich beim Baden an den scharfkantigen Steinen im Wasser die Füße verkratzt und ich mir die Brust beim „Bodysurfing“ (Wobei man bei den kleinen Wellen nicht weit kommt. Aber Spaß macht es trotzdem.) 11.8. Heute ist der Tag der Rückfahrt von der Küste in den „Garten Frankreichs“. Am Bahnhof von Pornichet allerdings folgte die erste Ernüchterung und Herausforderung für unser Improvisationsgeschick: Der erste Zug, der auch Fahrräder mitnimmt, fährt erst um 16.00 Uhr! Da es 11.00 Uhr war, hätten wir nicht nur den Tag verloren, sondern auch den Anschluss nach Paris. Also radelten wir nach St. Nazaire zurück, in der Hoffnung, dort einen früheren Zug zu erwischen. Da das Bahnpersonal aber bereits den Zustand der deutschen Bahnen in zwei Jahren vorwegnimmt, saßen hinter dem Schalter eigentlich nur sehr nette und hilfsbereites, aber extrem inkompetente Mitarbeiter. Dies gepaart mit einer ordentlichen Portion Desorganisation führte dazu, dass wir uns auf der Strecke nach Paris irgendwie durchhangeln mussten. Einschub: Man mag ja über die deutsche Bahn sagen was man möchte, aber allen Bemühungen zum Trotz haben wir hier immer noch eines der besten Schienennetze und Fahrpläne weltweit. Wie lange das allerdings gutgehen soll, wissen nur Diejenigen, die darüber entscheiden ohne jemals mit der Bahn gefahren zu sein – zumindest nicht in verschiedenen Ländern (Oder kann sich jemand unseren Verkehrsminister auf der Strecke zwischen Padua und Genua oder zwischen Nantes und Marseille im Zug vorstellen?). Also werden wir in Tours in die Jugendherberge gehen und von dort am kommenden Tag nach Paris weiterfahren. Der Vorteil ist dabei, dass wir nicht zusammenpacken müssen am Morgen und so locker eine Stunde gewinnen. 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