Radtour durch East Anglia: Radeln, Angeln und Sachsen 04.09.201001.02.2022 Und wieder war es Zeit für eine Radtour. Diesmal aber nicht in den Süden, sondern in das Land der Angeln und Sachsen: East Anglia, die Wiege der Besiedlung des englischen Königreichs, Ziel zahlloser Wikinger, Kontinentalmigranten – und auch von uns. Bevor der geneigte Leser sich in die Lektüre der Reisebeschreibung vertieft, sei noch voraus geschickt, dass auch diese Tour dem Anspruch gerecht werden sollte, Menschen, Kultur und Geschichte möglichst nah zu erleben – und das geht nun mal nur mit Rad, Zelt und Kocher. Nach Harwich Wir kommen ja aus München, und da ist Harwich nicht ein nahe liegendes Ziel. Also mussten wir zunächst mit dem Nachtzug von München nach Rotterdam und dann dort morgens nach Hoek van Holland, wo die Fähre zur Insel ablegt. Die Überfahrt dauerte denn auch sechseinhalb Stunden, so dass wir insgesamt 18 Stunden benötigten, bis wir in Harwich von Bord rollen konnten – auf der linken Seite der Straße. Allgemein Auch wenn England für sein Wetter berüchtigt ist, das eine Radreise eigentlich nicht angenehm machen kann, hatten wir bis auch die obligatorischen kurzen Nieselschauer gutes Wetter. Dennoch braucht man Regenzeug immer griffbereit, um nicht ins Frieren zu kommen. Harwich selbst hat seine besten Tage schon länger hinter sich und lebt eigentlich nur von dem Containerhafen in Felixstowe und den Fähren zum Kontinent, so dass es dort auch neben Hotels für Übernachtungsgäste keinen Zeltplatz gibt. Das wussten wir vorher und hielten uns auch nicht mit Suchen auf, immerhin war es schon Abends (bei trockenem Wetter), sondern zogen direkt los am Südufer des River Stour mit seiner langgezogenen Flussmündung Richtung Manningtree. In Wrabness gab es den ersten Zeltplatz – und nach den Stunden in der Bahn und auf der Fähre tat es eigentlich auch ganz gut, die Beine schon mal einzuradeln. Da es aber am Südufer keine touristische Route gibt, sondern nur eine A120, die die Reisenden möglichst schnell aus Harwich herausbefördern soll. war der Verkehr sehr stark und lärmend bis wir die B1352 nach Manningtree nahmen. Von dort abgebogen auf eine noch ruhigere Landstraße begann das Radeln Spaß zu machen. Den Zeltplatz erreichten wir bei einbrechender Dunkelheit. Da der Zeltplatz weit außerhalb einer größeren Ortschaft liegt, konnten wir einen wunderschönen klaren Nachthimmel betrachten und den Kindern mal die Milchstraße in ihrer ganzen Pracht zeigen. Von Harwich nach Bury St. Edmunds Streng genommen waren wir also am nächsten Morgen schon ein paar Meilen hinter Harwich, als die Tour richtig begann. Das Tagesziel war Bury St. Edmunds. Von Manningtree aus, wo wir uns verproviantierten, ging es in nordwestlicher Richtung über ruhige Nebenstraßen zum Grab des Königs Edmund, der der Stadt den Namen gegeben hatte. Und damit weit zurück in die englische Geschichte, denn der später heilig gesprochene Edmund der Märtyrer, der der Überlieferung zufolge den Märtyrertod gestorben war, als er sich weigerte, seinen christlichen Glauben zu verleugnen. Allerdings wurde er mit den Insignien Bär, Baum, Pfeilen und Wolf dargestellt, da der Sage nach die Dänen ihn durch Pfeile hinrichteten und dann enthaupteten. Nach dem damaligen Glauben an die Wiederauferstehung am Jüngste Gericht allerdings musste der Körper unversehrt sein. Eine Enthauptung und damit Bestattung ohne Kopf verhinderte somit zuverlässig die Auferstehung – der Tote war damit dazu verdammt, für alle Zeiten als kopfloser Geist herumzuwandern. Daher rührt auch vermutlich die Vorstellung, dass Gespenster häufig ohne Kopf gedacht werden. Die Klosterkirche von Bury St. Edmunds. Im Hintergrund links hatte bis 1538 die Kathedrale den Himmel verdeckt. Edmund hatte jedoch mehr Glück – ein Wolf fand seinen Kopf und bewachte ihn, bis die Freunde Edmunds ihn fanden und wieder vereint bestatteten. Später brachte man seine Gebeine nach Bury St. Edmunds. Das Mittelalter war manchmal doch recht dunkel… Heute steht dort allerdings nur die Kirche eines der größten Klöster des frühen europäischen Mittelalters. Sie gehörte zu einem riesigen und reichen Klosterareal, das Heinrich VIII Anfang des 16. Jahrhunderts zerstören ließ, um sich die Schätze einzuverleiben. Dabei zerstörte man auch die Kathedrale, von der heute nur noch Grundmauern des Portals stehen. Beim Durchschreiten des „Abbey Gate“ spürt man jedoch immer noch die Ausstrahlung der weltlichen und kirchlichen Macht im Mittelalter. Wir hatten Abends den Zeltplatz „The Dell“ erreicht und konnten uns Bury St. Edmunds erst am kommenden Morgen ansehen. Da allerdings gleichzeitig Markttag war und damit die Hälfte der Bevölkerung East Anglias sich auf den Straßen und in der Fußgängerzone tummelte, verzichteten wir auf einen längeren Aufenthalt und zogen weiter in Richtung Cambridge, nachdem wir uns mit Kartenmaterial versorgt hatten. Von Bury St. Edmunds nach Cambridge Eine lange Strecke nach Westen lag vor uns: Von Bury St. Edmunds nach Cambridge waren es gut 75 km, immer über die Hügel bei munterem Gegenwind. Die größte Schwierigkeit war dabei, sich über die nur mangelhaft ausgeschilderten Nebenstraßen hügelauf hügelab zu navigieren. Hier zeigte sich, was gutes Material ausmacht: den Unterschied zwischen Anstrengung und Quälerei. Im „Churchyard“ der Dorfkirche von Hitcham machten wir Mittagspause. Und ohne es zu wissen, waren wir an der Kirche von John Stevens Henslow gelandet. Und falls dieser Name jetzt auch unbekannt sein mag, einer seiner Schüler ist es dafür umso mehr: er empfahl einem gewissen Charles Darwin, seinem Musterschüler, doch die Reise mit der HMS Beagle anzutreten, da er ihn wie keinen zweiten aufgrund seines „scharfen Verstands“ für geeignet hielt, unterwegs Forschungen zu betreiben, die die Naturwissenschaften voranbringen könnten. Die Ergebnisse diese Schülers waren bahnbrechend und sind trotz ihrer zwingenden Logik und Einsicht in die Evolution auch heutzutage zahlreichen Mitmenschen in ihrer Bedeutung nicht verständlich zu machen. Henslow selbst war neben seiner Tätigkeit als Botaniker und Professor in Cambridge aber auch ein Philanthrop. Er gründete mit eigenem Geld die Schule in Hitcham, um den Bauern, die damals von der Bildung ausgeschlossen waren, Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen – auch um die Fortschritte in der Landwirtschaft umsetzen zu können. Verkehr Die Straßen in England sind auf dem Land recht gut, in den Städten meist grauenhaft. Knöcheltiefe Löcher zieren dort den Straßenrand, also den Bereich, in dem man gewöhnlich radelt. Eine rühmliche Ausnahme bildet Cambridge, das sich der Förderung des Fahrradverkehrs verschrieben hat. Mit Erfolg. Es gibt dort zahlreiche „Cycle Lanes“, die man sonst vergeblich sucht. London ist für Radfahrer der reine Selbstmord – außer zwischen Mitternacht und Morgengrauen. Wer mit Kindern fährt, sollte sie daher nicht alleine fahren lassen. Abgesehen davon sind die Strecken wegen der hügeligen Landschaft auch konditionell recht anspruchsvoll. Wir haben unsere kleinen Leute daher auf das Tandem meiner Frau gepackt oder mit dem Trets gezogen. Dann lassen sich auch Strecken von 60 km bewältigen ohne dass es in stumpfes Kurbeln ausartet. Motorways sind selbstredend für Fahrräder verboten, aber auch die „A‑Routes“ (entsprechen den Bundesstraßen) sollte man meiden, da dort der gesamte Lastwagen-Verkehr abgewickelt wird. Die Nebenstraßen dagegen sind meist ruhig und die britischen Autofahrer sehr höflich und vorsichtig. In Cambridge Abends erlebten wir dann zunächst eine Enttäuschung, als der Campingplatz in Cherry Hinton, der sich im Internet noch großspurig als Zeltplatz angepriesen hatte, gar keine Zelte aufnahm. Sollte man also meiden. Umso besser war dann der Zeltplatz der CCC (siehe Kasten rechts) in Great Shelford südöstlich von Cambridge: eine riesige Wiese, eingesäumt mit Brombeerhecken und Kaninchen, die sich um den Rasen kümmerten. Wir beschlossen daher, den Zeltplatz zu unserem Basislager zu machen, Cambridge einen Tag zu gönnen, dann einen Abstecher nach Ely zu unternehmen und auf dem Weg nach London wieder hier Station zu machen. Zeit also, sich über die Gestaltung des kommenden Tages Gedanken zu machen, während das Abendessen auf dem Benzinkocher brodelte. Cambridge Der nächste Morgen war kühl, aber mit strahlend blauem Himmel. Die optimale Einstimmung auf eine der ehrwürdigsten Universitätsstädte Englands also – und eine der ältesten der Welt noch dazu. Dazu konnten wir unsere Sachen auf dem Zeltplatz zurück lassen und mit unbeschwerten Rädern in die Stadt fahren. Schon lange vor der Gründung des ersten Colleges am Ufer der Cam war die kleine Stadt Cambridge ein wichtiger Handelsknotenpunkt, da hier der schiffbare Teil der Cam endete, den man mit den Barken („Punt“) erreichen konnte, andererseits aber hier der Landweg zwischen Essex und Chester kreuzte. Daher baute man auch schon in römischer Zeit eine Brücke, die der Stadt den Namen gab. Der eigentliche Aufschwung und die heutige Berühmtheit erreichte der Ort jedoch erst mit der Gründung der Universität, die aus einem Streit unter den Studenten und Professoren der älteren Universität Oxford entstand. Das erste College wurde zwar vom Bischof von Ely gegründet, jedoch schon kurz darauf ließ König Edward II. die große King‘s Hall errichten mit dem für damalige (und auch noch lange danach) beinahe revolutionärem Ansatz, auch Schülern ärmerer Herkunft eine Universitätsausbildung zukommen zu lassen – nicht ganz ohne Hintergedanken, denn er benötigte Verwaltungsbeamte. Die King’s Hall, vom Glockenturm der St. Mary aus gesehen. Dieser Glockenturm gilt auch als Ursprung jenes berühmten Glockenklangs, der heute vom Big Ben in London gespielt wird. Er wurde hier von Studenten erfunden. Da der König und viele Collegegründer nach ihm ebenso ihre Colleges zunächst in einem Halbkreis um die Stadtmitte an den weitläufigen Uferwiesen der Cam anlegten, ist die Universität zu einem beherrschenden Teil des Stadtbilds geworden. Vom Turm der Kirche St. Mary aus hat man einen besonders guten Blick auf die gesamte Altstadt, von der die Colleges fast die Hälfte des Panoramas einnehmen. Immer noch ist die Cam ein behäbig dahin fließender kleiner Fluss, dessen früher sumpfiges Umland mittlerweile trocken gelegt ist, und auf dem sich nur mit den „Punts“ staken lässt. Hier verdienen sich auch manche Studenten ein Taschengeld dazu, indem sie wie Venezianische Gondoliere auf den flachen Barken stehend die Touristen einmal im Halbkreis um die Colleges schippern. Man kann es aber auch selbst versuchen. Und das ließen wir uns natürlich nicht nehmen: gar nicht so einfach, eine drei Meter lange schwere Holzstange aus dem Wasser zu ziehen, einzutauchen, vom Boden abzudrücken und dann beim langsamen herausziehen den Nachen zu lenken. Langsam und gemütlich ist es aber. Und da das Wasser nicht besonders tief ist, kann man sich höchstens zum Gespött der Zuschauer machen, wenn man das Gleichgewicht verliert … Eine weitere für mich erstaunliche Entdeckung machten wir in Cambridge: der Umgang der Briten mit ihrer Religion ist ein gewisser Pragmatismus. Nachdem König Heinrich VIII. (der mit den sieben Frauen) alle kirchlichen Besitztümer eingezogen und an seine adeligen Günstlinge verteilt hatte, sowie sich zum „Verteidiger des Glaubens“ gegen den Papst gestellt hatte – den Titel hatte ihm noch der Papst verliehen –, war die Spaltung von der römisch-katholischen Kirche Faktum. Diese sollte auch keinen Fuß mehr auf englisches Gebiet setzen dürfen und war als Machtfaktor in England damit nicht mehr relevant. Leider aber hat dies auch dazu geführt, dass die Kirchen auf die Unterstützung der weltlichen Herrscher angewiesen waren, die diese frei von moralischen Erwägungen immer spärlicher verteilten. Kirchen in England müssen sich heute selbst die Gelder erwirtschaften, die sie zum Unterhalt benötigen. So auch St. Mary in Cambridge. Daher bekamen wir beim Bezahlen des Aufstiegs zum Glockenturm der Kirche auch gleich eine Rabattmarke für ein nahe gelegenes Café – das sich in einer anderen Kirche befand. Man hatte dazu das Kirchenschiff halbiert und während im hinteren Teil noch Gottesdienste stattfinden, sitzt man im vorderen Teil auf der Empore und schlürft Cappucino. Ely und zurück Dabei tut man dem Ort großes Unrecht. Zwar scheint es bewusste Politik des dortigen Magistrats zu sein, möglichst bedeutungslos zu erscheinen, aber das macht das Städtchen nur umso mehr zu einem Geheimtipp für alle, die sich das Umland von Cambridge näher anschauen möchten: Ely besitzt nämlich die wohl schönste Kathedrale in East Anglia. Auch ist – vielleicht aufgrund des nicht forcierten Tourismus – die kleine Stadt abseits der touristischen Ziele für einen Massentourismus (wie ihn Cambridge erlebt) ungeeignet. Zuerst aber zur Anfahrt. Wir mussten nämlich einmal quer durch Cambridge, um von Shelford durch die Innenstadt von Cambridge über Landbeach nach Ely zu kommen. Zwar gibt es einen offiziellen Radweg von Cambridge nach Ely (es sind nur etwa 10 Meilen), der aber führt entlang der viel befahrenen A10 auf einem alten Fußweg, der nicht nur in sehr schlechtem Zustand ist, sondern auch für das Gespann mit Trets eindeutig zu schmal. Glücklicherweise kann man sich durchs Hinterland mogeln, ruhige Nebenstraßen benutzend, die oft mit Pflaumenbäumen als Grundstücksgrenzen versehen sind. Zeltplätze Die Zeltplätze sind gut, vor allem diejenigen des Camping and Caravanning Club, der ein Netz von großen und gut gepflegten Zeltplätzen zu moderaten Preisen unterhält. Diese sollte man sich schon bei der Reiseplanung als Etappenziele aussuchen. Außerdem haben die meisten Zeltplätze einen kleinen Shop, wo man sich morgens die frische Milch holen kann. Da Campingplatzbesitzer für Zelte und Wohnwagen/-mobile eine jeweils eigene Zulassung benötigen, haben die meisten privaten Eigner auch auf Ersteres verzichtet – die Zeltler sind nicht zahlreich genug und bleiben meist auch nur zu kurz. Falls auf der Route kein Zeltplatz des CCC zu finden ist, sollte man vorher anrufen, sonst steht man vor verschlossenen Toren. Und Briten sind da sehr genau. Es gibt übrigens keine eigene Preiskategorie für Radler. Gerade im ehemals sumpfigen Gelände um die Stadt der Aale (der Name Ely stammt von »City of the Eels«) wurde uns vor Augen geführt, wie man in Mitteleuropa mittlerweile die Landschaft zerstört hat und Tieren ihren natürlichen Lebensraum. Wo hierzulande die Agrarindustrie (Der Begriff Landwirtschaft ist ein Euphemismus, denn es geht letztendlich nicht um die Bewirtschaftung von Land, sondern um die Ausbeutung der Natur) noch die letzten Quadratmeter potenziellen Ackerlands mit Düngemitteln und Pestiziden verseucht, Kühe nur noch im Stall leben dürfen, damit sie mehr Milch geben und Tiere nur nach Schädlingen und Nahrungsmittel klassifiziert werden, stehen dort schier endlose Hecken aus Brombeere, Mirabellen und Pflaumen, Hartriegel und Holunder an den Straßenrändern. Sie dienen den Vögeln und Insekten als Rückzugsgebiete und Nahrungsgrundlage und bieten Schutz vor Fressfeinden. Nicht nur einmal rannte plötzlich auf den Nebenstraßen ein ganzer Trupp Rebhühner über die Fahrbahn in der irrigen Annahme, wir würden sie essen wollen. Diese Rückzugsgebiete gibt es in Deutschland kaum noch, höchstens in der Nähe von Städten, wo sich umweltbewusste Mitmenschen einen naturnahen Garten leisten können und wollen. Schade. Könnten wir doch viel von einem funktionierenden Ökosystem lernen. Nun aber Ely: aus erst vor 200 Jahren mehr oder weniger trocken gelegten Sümpfen ragte plötzlich die auf einem Hügel liegende Kathedrale auf wie ein Leuchtturm. Sie musste im Mittelalter ein enormer Anziehungspunkt gewesen sein, zu einer Zeit, als Cambridge noch ein kleines Universitätsstädtchen und ein Handelsknoten war. Die weltliche Macht saß in Cambridge, wo auch der Bischof von Ely das erste College gründete, und die kirchliche Macht saß in Ely. Davon zeugt die Kathedrale. Die Kathedrale von Ely Dass dies aber bei der dortigen Bevölkerung nicht unbedingt als ein Positivum gewertet wurde, kann man an den Zerstörungen erkennen, die man der Einrichtung im 16. Jahrhundert beibrachte: allen Heiligenportraits wurden die Köpfe herausgeschlagen un der gesamte Kirchenschatz geplündert. Aus heutiger Sicht aber ist das nicht von Nachteil, denn durch den Ansehens- und Vermögensverlust wurde die Kathedrale auch von späteren Geschmacklosigkeiten verschont, wie sie beispielsweise in Westminster Abbey zu finden sind, wo sich Jeder halbwegs bekannte Brite eine Grabplatte gestiftet hat und die Kirche mehr zu einem Profanbau geworden ist. Die Kathedrale in Ely allerdings hat bis auf den heutigen Tag erhebliche finanzielle Sorgen und wirkt immer noch so kahl, wie man sich eine gotische Kathedrale vorstellt. Daher verfügt sie auch über eine bemerkenswerte Akustik, die sogar namhafte Chöre aus ganz England veranlasst, dort Konzerte zu geben. Wer in Ely vorbeischaut, sollte sich also unbedingt den Veranstaltungskalender zu Gemüte führen. Es lohnt sich. Die Kathedrale ist jedoch nicht der einzige Grund nach Ely zu fahren, denn der Ort hat neben der kirchengeschichtlichen Bedeutung auch ein klassisches englisches Wohnhaus des gehobenen Bürgertums zu bieten: das Wohnhaus von Oliver Cromwell. Seine Rolle in der britischen Geschichte ist recht ambivalent, und so wird er auch in Ely als genialer, aber umstrittener Mensch beschrieben. So gehörte er zwar zu denjenigen, die die republikanische Gesinnung des englischen Bürgertums gegen den Adel und einen starrsinnigen Charles I. durchsetzte, andererseits aber auch als gewaltbereiter Diktator, der nicht nur die Iren unterdrückte, sondern auch den König hinrichten ließ, um „klare Verhältnisse“ zu schaffen. Auf ihn geht auch der Begriff des „Commonwealth“ für die britischen Herrschaftsgebiete zurück, denen er als „Lordsiegelverwalter“ vorstand. In gewissen Ansätzen nahm er damit die französische Revolution vorweg, indem der König und Oberhaus (Adel) kurzerhand abschaffte. Aber auch ihm wurde es nicht gedankt: Nach seiner prunkvollen Beisetzung 1658 grub man seine Leiche zwei Jahre später wieder aus, um ihr – nun wieder unter königlicher Herrschaft und dem Primat des Adels stehend – posthum den Kopf abzuschlagen. Dieser kurze Ausflug in die knappe republikanische Geschichte Großbritanniens endete damit so blutig, wie er begonnen hatte. Wir hatten allerdings das Ausmaß der Verschlafenheit in Ely so nicht eingeschätzt, denn es findet sich in unmittelbarer Nähe zum Städtchen kein Zeltplatz, so dass wir Abends noch ein ganzes Stück entlang der A10 nach Little Thetford zurückfahren mussten, um einen kleinen, aber recht lauten (da an der A10 liegend) Zeltplatz zu finden, der auch mit Kindern belegt werden darf. Glücklicherweise aber liegt direkt gegenüber schon die Abzweigung in eine ruhige Nebenstraße, auf die wir uns für den Rückweg nach Cambridge freuten. „Der Rest Britanniens ist zur Wildschweinjagd da“ hätte es bei Asterix geheißen, wenn es um das Verhältnis zwischen London und den britischen Inseln geht. Das gilt auch heute noch, wenn auch die Wildschweine mittlerweile den Rebhühnern Platz machen mussten. Nichtsdestotrotz mussten wir fast unausweichlich nach dem doch eher beschaulichen Ausflug in die britische Provinz das nächste große Ziel auf unserer Route ins Auge fassen: Wir wollten nach Londinum, einer der erstaunlichsten Städte des Universums. Von Cambridge nach Hertford Der Weg von Cambridge nach London gleicht einer Fahrt aus der Idylle beschaulichen Landlebens in einen gewaltigen Mahlstrom. Aber soweit waren wir noch lange nicht, denn zunächst führte uns die Route von Little Thetford nach Cambridge, wo wir einen ruhigen Nachmittag verbrachten und die Kinder endlich ausgiebig auf dem weitläufigen Campingplatz spielen konnten. Da Johanna uns Erwachsene auch in die Feinheiten der Judorolle einführte, war uns die Aufmerksamkeit der übrigen Camper sicher… Am folgenden Tag brachen wir wie gewohnt am späten Vormittag auf (es dauert einfach, bis die Zelte genügend getrocknet sind, die Klamotten und Schlafsäcke verstaut und die Kinder reisefertig sind). Kartenmaterial Kartenmaterial ist nicht einfach zu bekommen, vor allem im Vorfeld. Da in England Fahrräder vornehmlich als Freizeitartikel und nicht als Transportmittel gesehen werden, sind die Touren in den lokalen Radreisekarten auch entsprechend kurz. Es empfiehlt sich daher, vor Ort Autokarten mit einer Auflösung von ca. 1:200.000 zu besorgen. Wir hatten den „Regional Road Atlas East Anglia“ und dazu einen kleinen Geschichtsführer, um die Route zu planen. Vor Ort gibt es oft zahlreiche Informationen und auch die Einheimischen sind meist durchaus kommunikationsfreudig. Wir hielten uns südlich nach Hertford, dem Ziel der heutigen Etappe. Da an Cambridge der Motorway 11 (M11) vorbeiführt, sind die Nebenstraßen relativ ruhig, so dass die Fahrt bis Mittag trotz der Nähe von London und der zunehmenden Besiedlungsdichte angenehm bleb und wir ausgeruht an Audley End vorbei kamen und uns dort einen Abstecher leisteten. Audley End ist ein alter Herrensitz, der seit der Steinzeit besiedelt war. Zunächst auf dem nahe liegenden Hügel, auf dem noch die Reste des Ringwalls um die Siedlung aus der späten Steinzeit zu sehen sind, wurde das sanfte Tal im Mittelalter zu einem Klostergelände, das dann – wie viele Klöster Englands – von Heinrich VIII aufgelöst und an seine Spetzeln und Günstlinge verteilt wurde. Bemerkenswert an Audley End ist jedoch, dass diesen Sitz ausgerechnet jener hochrangige Staatsbedienstete zugesprochen bekam, der Heinrich VIII gegen den Papst juristisch beriet. Heutzutage würde man Sir Thomas Audley einen Scheidungsanwalt für Prominente nennen. Auf jeden Fall konnte man damit bereits damals reich und berühmt werden. Sein Haus jedenfalls ließ er zu einem der prächtigsten und größten Landsitze ausbauen. Audley End House Ganz so groß blieb es aber nicht. Im Gegenteil, das Anwesen wechselte schon ob des kostspieligen Unterhalts mehrmals den Besitzer, wurde mehrmals umgebaut und an den Geschmack der Zeit angepasst, bis es schließlich im letzten Jahrhundert in Staatsbesitz überging (Parallelen zu Sozialisierung privater Schulden in der Geschichte bieten sich hier an, sollen aber nicht weiter verfolgt werden). Der britische Staat nutzte den Besitz zur Schulung polnischer Offiziere während des zweiten Weltkriegs und überließ das gesamte Anwesen dann der Stiftung „English Heritage“, die sich auch um andere bedeutende historische Anwesen aus allen Epochen der englischen Geschichte kümmert. Das Haus selbst darf gegen gutes Geld besichtigt werden und zeigt Einrichtungsgegenstände aus den letzten 500 Jahren, die die Bewohner des Hauses so ansammelten: von ausgestopften Mardern bis zu italienischen Renaissancetruhen lässt sich alles bewundern. Die Kinder faszinierte jedoch immer die Einrichtung der Zimmer in den unterschiedlichen Epochen von Tudor bis Viktorianisch. Wie es bei uns immer üblich ist, wurde der Besuch dann doch länger als ursprünglich vermutet und geplant, so dass wir uns erst gegen 16:00 auf den Weg nach Hertford machten – wieder über die Hügel nach Hertfordshire. Hier wurden die Löcher in der Straße zahlreicher und tiefer, vor allem an den Straßenrändern, die von uns Radlern ja bevorzugtes Rückzugsgebiet sind. Auch in Hertford schlugen wir unsere Zelte auf einem Campingplatz der CCC auf, der ähnlich groß war, allerdings wegen der schnell hereinbrechenden Dunkelheit und einsetzenden Nieselregens von den Kindern nicht genauer untersucht wurde. Von Hertford nach London Für die Anfahrt nach London hatte sich Corinna eine Besonderheit ausgedacht: wir wollten entlang des Lee, der in London in die Themse mündet. Früher ein versumpfter Fluss, der in der Industrialisierung als Schiffahrtsweg genutzt und bis Hertford flussaufwärts befahrbar gemacht wurde, sind seine Ufer heute Naherholungsgebiet. Für uns bedeutete das: keine Hügel und kein Verkehr bis nach London. Unterwegs gab es trotzdem etwas zu sehen, denn auch am Lee liegen die britischen Hausboote, deren Bewohner sich eine schwimmende Unterkunft entweder leisten können oder leisten müssen, denn die Grundstückspreise im Großraum London sind astronomisch. Um mit so einem Hausboot aber überhaupt die 30 Meter Höhenunterschied bis Hertford bewältigen zu können, baute man vor 150 Jahren dort 11 Schleusen, die von Hand zu bedienen sind. Für die Skipper bedeutet das: anlegen, aussteigen, Schleuse auf, Boot hinein, Schleuse zu, Fluten oder Leeren, Schleuse wieder auf, Boot raus, einsteigen und dann mit ungefähr 15 Meilen am Tag weitertuckern. Gemütlich. Je weiter die Boote allerdings von London entfernt festgemacht waren und ihren Bewohnern als Behausung dienten, desto mehr erinnerten sie an den Seelenverkäufer aus Werner Herzogs „Nosferatu“, der in Amsterdam anlegt. In London mussten wir, da es dort keinen Campingplatz gibt, in einem Hotel übernachten, das Corinna aus Deutschland gebucht hatte. Dazu jedoch verließen wir das Tal des Lee und querten London im Norden. Ich hatte nie gewusst, wie hügelig das Land im Norden der Hauptstadt ist, vor allem, wenn man nicht stadteinwärts radelt, sondern ruhigere Nebenstraßen sucht, um vom Flussufer nach Highgate zu gelangen. Zwar liegen Großstadt-typische Parks und Anlagen dazwischen, aber das Straßengewirr erleichtert die Navigation nicht gerade. Der Lee an einer der Schleusen. Teilen mit:MastodonWhatsAppE‑MailMehrDruckenLinkedInTelegramPinterestGefällt mir:Gefällt mir Wird geladen … Radreise unterwegs GroßbritannienRadreise
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