Radtour: Normandie in heiß und trocken 06.08.202207.10.2023 Auf diesem Planeten gibt es so viel Schönheit, dass es mich sehr überrascht, wie viele Menschen in der Stadt leben und auf die Wand ihres Nachbarhauses starren. Thor Heyerdahl Radeln in der Normandie hat etwas sehr Vielseitiges: zum einen in geschichtlicher Hinsicht, denn hier entschied sich bereits mehrmals die Geschichte Europas, zum anderen in sportlicher Hinsicht, denn die zahlreichen Hügel und Täler bieten immer wieder überraschende Steigungen (und Abfahrten) – und natürlich in ästhetischer Hinsicht, denn landschaftlich reizvoll ist der Norden Frankreichs allemal. In diesem Jahr hatten wir uns zwei Wochen Zeit gegeben, eine große Normandie-Rundfahrt von Paris über Chartres bis Mont St. Michel und Le Havre zurück nach Paris zu radeln. Wie immer mit Zelt, Schlafsack, Kocher und Komoot1. Die Tour de Normandie, knapp 1000 km Bereits der Beginn der Tour war abenteuerlich, denn es ist trotz vorhandener Gleise nicht möglich, mit der Bahn von Deutschland nach Paris zu fahren. Zumindest nicht mit unverpackten Rädern, denn die Bahn in Deutschland hat keinen Einblick in die Anzahl der verfügbaren Fahrradstellplätze in französischen Zügen – und umgekehrt natürlich auch nicht. Man muss daher mit dem Zug direkt bis an die Grenze – hier nach Kehl, dann mit dem Rad über den Rhein radeln und anschließend im gegenüber liegenden Strasbourg wieder in die Bahn nach Paris einsteigen. Europa 2022. Auf deutscher Seite ist es – sofern man ausreichend Zeit mitbringt und Umstiegszeiten großzügig bemisst – dank 9€-Ticket sehr günstig. Zwischen Strasbourg und Paris wird man das eingesparte Geld aber dann schnell wieder los… Paris mon Horrible In Frankreich hat sich viel getan in Bezug auf Fahrradinfrastruktur, auch in Paris, das dafür in der Mobilitätsszene sehr gelobt wird. Denn in der Tat gibt es vor allem in Paris abgetrennte Fahrradbahnen, eigene Ampeln und eine konsistente Beschilderung. Allerdings hat sich an der Fahrweise der Pariser (über die sich bereits Asterix lustig gemacht hatte) nichts geändert: zusätzlich zum Autoverkehr witschen jetzt auch die Scooter, Radler und Roller mit aberwitziger Fahrweise zwischen erratisch manövrierenden Fußgängern und Radfahrern hin und her, so dass die Fahrt am ersten Tag sehr stressig wurde. Wir hatten beschlossen, noch am Abend unserer Ankunft nach zehn Stunden Bahnfahrt direkt von Gare de l‘Est quer durch die Stadt Richtig Westen nach Versailles zu fahren. Wir kamen auch in Versailles an, wurden am einzigen dort vorhandenen Zeltplatz aber abgewiesen, was sehr ungewöhnlich ist2, und mussten mit einem örtlichen Hotel vorlieb nehmen.3 Prädikat nicht empfehlenswert. Wir beschlossen daher zunächst mit Hilfe der App die Zeltplätze bereits einen Tag im Voraus zu buchen und sahen uns am ersten richtigen Tag Versailles an. Dass diese Protzerei irgendwann zu einer Revolution führen würde, war absehbar. Umso mehr, als dass sie in keiner Proportion zur Armut vor allem der Stadtbevölkerungen stand. Ende des 18. Jahrhunderts kam dann Hochmut vor das Fallbeil (pardon the pun)… In Versailles und seinen beeindruckenden Gartenanlagen zeigte sich die ganze Dekadenz des französischen Adels und seine Weltabgerücktheit angesichts großer gesellschaftlicher Umwälzungen, derer er nicht mehr Herr wurde: der nachlassende Reichtum aus den Kolonien, die bereits viele europäische Herrscherhäuser seit den Habsburgern ausgeplündert hatten, und die aufkommende Industrialisierung, in der Menschen und Maschinen statt Sklaven und Bodenschätze zum wichtigsten Wohlstandsfaktor wurden. In Versailles spiegelte sich das Ancient Regime in sich selbst – und hinterließ der Geschichte genug Anschauungsmaterial für Generationen. Go West Richtung Westen stand das nächste große Ziel auf der Karte: der eigentlich völlig unbedeutende Ort Chartres mit seiner alles überragenden Kathedrale, die zu den schönsten gotischen Sakralbauten Frankreichs und auch Europas zählt. Sehr poetisch drückt es Wikipedia aus: Die Kirche wirkt in der immer noch relativ kleinen Stadt absolut dominierend, ist in der flachen Landschaft schon von weitem zu erkennen und vermittelt somit selbst heute noch ungefähr den Eindruck, den sie seit dem 13. Jahrhundert auf die Zeitgenossen ausübte, als solch ein Bauwerk wie ein überirdisch-göttliches Symbol in der profanen Umwelt stand. https://de.wikipedia.org/wiki/Kathedrale_von_Chartres?wprov=sfti1 Der Chor der Notre Dame de Chartres, vom „Labyrinth“ aus gesehen Hinter Chartres beginnt der schönste Teil des EV4 (Eurovélo 4) auch „Véloscenie“, ein europäischer Radwanderweg, der sich auf der Trasse einer zurück gebauten Eisenbahnstrecke zwischen Chartres und Mont St. Michel durch die Hügel und Täler windet. Unter anderem kommt man dabei an den klassischen mittelalterlichen Burgen des normannischen Adels vorbei, der sich hier befestigte Herrensitze einrichtete wie man sie sonst nur in Großbritannien noch findet. Und das aus gutem Grund, denn die Normannen, die ab 1066 die Herrschaft auf den britischen Inseln übernahmen und nachhaltig prägten in Sprache, Verwaltung und Kultur, kamen schließlich von hier. So auch der Geoffroy III., dem Grafen der Perche, der in Nogent-le-Rotrou Anfangs des 11. Jahrhunderts eine der massigen Burgen baute, die schon alleine durch ihre Imposanz und Lage es Engländern im Hundertjährigen Krieg (1337 – 1453) nicht leicht machten, ihren Anspruch auf den französischen Thron durchzusetzen. Es ist eine der Aburditäten der mittelalterlichen Geschichte, dass die Normannen von Frankreich aus mit Billigung des französischen Königs die Herrschaft in England und Wales übernahmen, es aber im Hundertjährigen Krieg nicht schafften, von England aus die Normandie zu besetzen und die französische Krone zu übernehmen. Die Burg von Nogent-le-Rotrou, erbaut 1029, danach erweitert und 1359 – 1360, 1424 – 1428 von englischen Truppen besetzt. Der Burggraben wird von Ziegen instand gehalten, die Burg beinhaltet eine kleine aber sehr interessante Sammlung mittelalterlicher Objekte der Region. Von nun an ging es wortwörtlich stetig bergab zur Küste Richtung Nordwest zum Mont St. Michel. Von der stechenden Hitze, die tagsüber kaum unter 30 °C sank, nahmen wir nicht viel wahr, da der Radweg bis kurz vor der Küste fast durchgehend durch kilometerlange Alleen auf einer alten Eisenbahntrasse führt. Da die Gleise dabei nie mehr als 4% Steigung besitzen dürfen, ist auch der Radweg entsprechend flach und dank des durchgehenden Ausbaus als befestigte Piste sehr gut befahrbar. Es rollt nur so dahin, immer wieder unterbrochen von Radschranken, die einerseits Autos davon abhalten sollen, die Strecke zu benutzen und andererseits die Radfahrer abbremsen, einfach über die Straße zu rollen. Der Berg der Pilger Der Mont St. Michel ist eigentlich ein karger Felsklotz, der wenige hundert Meter vom Ufer entfernt mitten im Wattenmeer der gleichnamigen Bucht hockt. Hier münden die Sélune und die Sée und haben im Laufe der Zeit ein riesiges Delta angelegt, das beim Durchfahren ein wenig an die Camargue erinnert. Auf dem Fels siedelten bereits im 8. Jahrhundert Mönche, ab dem 11. Jahrhundert wurden fast ununterbrochen neue Anbauten an die Abtei angefügt, so dass mittlerweile die alten Gemäuer so mit dem Fels verwachsen scheinen, dass kein Unterschied mehr erkennbar ist – was auch zu seiner Imposanz beiträgt. Kunstgeschichtlich hat der frühere Pilger- und heutige Touristenmagnet kaum etwas zu bieten und erinnert gerade während der Sommerzeit an einen Jahrmarkt, wo sich Menschenmassen durch die enge Gasse hinauf zur Abtei quetschen, wohin sie zuvor von Pendelbussen gebracht wurden. Die Abtei Mont St. Michel Bayeux Von hier an ging es wieder ostwärts, allerdings in Richtung Bayeux. Dazu mussten wir auf dem EV4 einige Kilometer zurück fahren, um dann auf dem Radweg hinter Mortain in Richtung Vivre abzubiegen. Hier war es dann auch bald Schluss mit dem gemächlichen Dahinrollen, es wurde zunehmend normannischer: ein ständiges Auf und Ab durch Wiesen, Weiden und Wälder. Und immer wieder Brombeerhecken, die über viele Kilometer die Radwege säumen und denen man die diesjährige Dürre sehr anmerken konnte. Die Kathedrale von Bayeux durch die Gassen der Altstadt gesehen Bayeux ist eigentlich kein bedeutsamer Ort für den durchschnittlichen Normandie-Besucher – es sei denn, er kommt aus Großbritannien. Auf der Insel steht der Ort für einen der wichtigsten und einschneidendsten Ereignisse der englischen Geschichte der letzten 1000 Jahre: in der Kathedrale von Bayeux wurde früher zweimal jährlich seit dem 11. Jahrhundert eine über 50 Meter lange Stickerei ausgestellt, die heute in einem eigens dafür eingerichteten Museum täglich von hunderten Touristen durchströmt wird. Sie stellt den Gründungszeitpunkt der britischen Monarchie und englischen Identität dar. Zwar gab es in England nach dem Abzug der römischen Truppen zahlreiche Könige und Fürsten, die um die Vorherrschaft kämpften, aber erst einem galng es, sich die Krone dauerhaft zu sichern und den englischen Adel mit Hilfe seiner Vasallen zu entmachten. Und er war dabei nicht zimperlich. William the Conqueror, Graf der Normandie, besiegte 1066 mit seinem normanischen Heer in der denkwürdigen Schlacht von Hastings die Truppen des Harald, der sich zum angelsächsichen König ausgerufen hatte. Einem ebenso genialen wie ruchlosen Strategen wie William und seinen Vasallen war sein Heer aber nicht gewachsen. In der Folge übernahmen die Normannen die Verwaltungshoheit, etablierten ihre Kultur und Sprache im englischen Königreich und bildeten von nun an die Gentry, den Landadel, der noch heute jene eigentümliche Spaltung der britischen Gesellschaft kennzeichnet: auf der einen Seite die Besitzenden (Lords) und auf der anderen Seite die gewöhnliche Bevölkerung (Commons). Operation Overlord Die Normandie und ihre Nähe zur britischen Küste war aber knapp 1000 Jahre nach dem Übersetzen normannischer Truppen auf die britischen Inseln der bedeutsame Schauplatz eines der blutigsten Kriegsgeschehens der neueren europäischen Geschichte: am 6. Juni 1944 begann im Morgengrauen die „Operation Overlord“ genannte Invasion der Normandie durch die Allierten, um Europa von der grausamen Diktatur des faschistischen deutschen „Dritten Reichs“ von Westen her zu befreien. Da die deutschen Truppen Frankreich seit 1940 besetzt hielten und seit dem Winter 1941 mit dem Bau des „Atlantikwalls“ Vorbereitungen gegen eine Invasion getroffen hatten, mussten die allierten Truppen an mehreren Strandabschnitten diese Barrieren in Form von Strandbefestigungen, Minen, Maschinengewehr- und Artilleriestellungen niederkämpfen, was insbesondere am amerikanischen Strandabschnitt „Omaha Beach“ eine hohe Zahl an Menschenleben kostete.4 Blick aus einer ehemaligen deutschen Stellung am „Gold Beach“, an dem die britischen Truppen landeten. Im Hintergrund die Ausläufer des Dorfs Arromanches Von Bayeux aus erreichten wir die Küste bei Arromanches und fuhren in Richtung Osten immer dem Küstenradweg entlang. Dieser Abschnitt ist vor allem in Urlaubszeiten für Radfahrer eine Zumutung, da sich die Streckenplaner in ihrem Bemühen, die Radfahrer vom Autoverkehr fernzuhalten, darin überboten haben, jeden auch noch so unbedeutende Strandrummel mitzunehmen. So ist in den französischen Ferien der ganze Vergnügungsbetrieb der Normandie auf die flachen Sandstrände konzentriert, was dazu führt, dass ständig Fußgänger mit der Reaktionsgeschwindigkeit tektonischer Platten auf Wegen herumstehen und das Weiterkommen behindern. Seine, die Schlaufenreiche Ursprünglich hatten wir überlegt, an der Küste bis Dieppe zu fahren und dann quer durchs Land nach Paris zu radeln. Aber die Erfahrungen mit den überraschenden Steigungen und den doch teilweise sehr schlechten Straßenoberflächen bewegten uns dazu, wie immer während einer Tour die Strecke neu zu planen. Und so schwenkten wir bei Le Havre in den Seine-Radweg ein, um den zahlreichen Schlaufen der Seine aufwärts bis Paris zu folgen. Das Tal der Seine bei Rouen Die Seine verläuft über weite Strecken zwischen Le Havre und Rouen zwischen weißen Kalkfelsen und erinnert aufgrund ihrer Windungen und schroffen Hänge entfernt an eine Mischung aus der Küste von Dover und der Mosel. Sie schlängelt sich aus dem Pariser Becken in Richtung Nordwest zur Küste und hat sich im Lauf der Zeit durch die Kalkfelsen gegraben und immer wieder Abkürzungen genommen oder wurde zur Industrialisierung an manchen Stellen vertieft. Dadurch sind zahlreiche Altarme entstanden, die einer unglaublichen Anzahl an Wasservögeln Rückzugsgebiete bieten. Dies liegt auch daran, dass die Ortschaften unterhalb der Burgen immer auf der Prallhangseite liegen (aus strategischen Gründen) und die gegenüberliegenden Gleithangseite entweder landwirtschaftlich genutzt wird oder als Auwald mit Altarmen erhalten geblieben ist. Der Radweg versucht auch hier entlang der Seine immer die verkehrsärmere Streckenführung zu nutzen, was einerseits sehr löblich ist, andererseits aber den größtenteils sehr schlechten Straßenzustand der Nebenstraßen deutlich spürbar werden lässt: asphaltierte Nebenstrecken sind eher Testgelände für Stoßdämpfer und vermitteln den Anschein, als ob sie nur dazu angelegt sind, alle Fahrzeuge möglichst rasch schrottreif zu fahren – auch Fahrräder. Da wir aus den Erfahrungen in Paris gelernt hatten (auf keinen Fall mitten durch!), blieben wir auf dem Rückweg trotz der schlechten Wegführung und einiger Treppen (!) so lange wie möglich auf dem ausgeschilderten Radweg, um den Gare de l’Est zu erreichen. Noch in der gleichen Nacht öffnete der Himmel seine Schleusen… Hinweis: Tippen oder klicken Sie in der folgenden Bildergalerie auf ein Bild, um die Diashow zu starten. Ich kann mich nur noch dunkel erinnern, wie man früher ohne diese App mit Karten im Ausland auf Reisen ging: oft verfahren, manchmal verloren, ständig ohne Ortskenntnis und immer voller Hoffnung, dass man auch dort ankommt, wo man ankommen möchte. ↩Radfahrer und Wanderer weist man gewöhnlicherweise nicht an Campingplätzen ab. ↩Auch hier lernt man die Vorteile eine App wie Komoot kennen, denn neben Zeltplätzen in der Nähe des Aufenthaltsortes lassen sich auch andere Unterbringungen anzeigen. ↩Einen sehr realistischen Einblick in die unglaubliche Grausamkeit dieses Kriegsschauplatzes zeigt der Film „Saving Private Ryan“ von Steven Spielberg. ↩Teilen mit:MastodonWhatsAppE‑MailMehrDruckenLinkedInTelegramPinterestGefällt mir:Gefällt mir Wird geladen … Radreise FrankreichNormandieRadreisen
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